Kein Lebenszeichen
meisten Männer, die ich kenne. Aber ich habe nie verstanden, wie jemand die Verdrecktheit zahnloser Crack-Huren mit Erotik verwechseln kann.
In gewisser Weise hat die Säuberung der Stadt unsere Arbeit erschwert. Früher hatte der Rettungsbus von Covenant House seine feste Route. Die Ausreißer trieben sich auf den Straßen herum und waren mit geübtem Blick leicht zu erkennen. Jetzt lief alles versteckter ab. Und was noch schlimmer war, die Stadt an sich war keineswegs sauberer geworden – sie sah nur sauberer aus. Die so genannten anständigen Menschen, die eben erwähnten Pendler und Touristen, standen nicht mehr vor zugeklebten Fenstern mit der Aufschrift Unter 18 Zutritt verboten und vor Ankündigungen von Pornos mit Titeln, die auf Hollywoodfilme anspielten,
wie Ein Babe namens Schweinchen oder Fegefeuer der Unterhöschen. Doch solcher Schmutz stirbt nie aus. Er ist wie die Kakerlaken. Er überlebt immer. Er gräbt sich ein und versteckt sich. Ich glaube nicht, dass man ihn ausrotten kann.
Und es hat durchaus Nachteile, den Schmutz zu verstecken. Wenn man ihn sieht, kann man darüber spotten und sich überlegen fühlen. Die Menschen brauchen das. Für manche ist es eine Art Ventil. Ein weiterer Vorteil des sichtbaren Schmutzes: Was wäre Ihnen lieber – ein direkter Angriff von vorne oder eine schlangengleiche Gefahr, die durchs hohe Gras schleicht? Schließlich – aber da gehe ich vielleicht zu sehr ins Detail – kann eine Medaille keine Vorderseite haben, wenn es nicht auch eine Kehrseite gibt, es kann kein Oben ohne Unten geben. Ich weiß nicht einmal genau, ob man Licht ohne Dunkelheit haben kann, Reinheit ohne Schmutz, Gut ohne Böse.
Beim ersten Hupen drehte ich mich nicht um. Schließlich lebe ich in New York City. Hupende Autofahrer zu vermeiden, während man die Straße entlangging, war so aussichtslos wie der Versuch, beim Schwimmen nicht nass zu werden. Also drehte ich mich erst um, als ich die vertraute Stimme hörte. »Hey, du Saftsack!« Der Covenant-House-Kleinbus hielt mit quietschenden Bremsen neben mir. Squares saß am Steuer. Er war allein. Er öffnete das Fenster und riss sich die Sonnenbrille von der Nase.
»Steig ein«, sagte er.
Ich öffnete die Tür und sprang hinein. Der Streetworker-Bus roch nach Zigaretten, Schweiß und ein wenig nach Aufschnitt von den Sandwiches, die wir jeden Abend an die Jugendlichen verteilen. Der Teppichboden wies Flecken in allen Größen und Farben auf. Das Handschuhfach war nur eine leere Höhle, die Sitze waren durchgesessen.
Squares sah auf die Straße. »Was machst du denn hier?«
»Ich geh zur Arbeit.«
»Wieso?«
»Therapie«, sagte ich.
Squares nickte. Er war die ganze Nacht im Bus unterwegs gewesen – ein Racheengel auf der Suche nach Kindern, die er retten konnte. Er sah nicht allzu mitgenommen aus, hatte aber auch von Anfang an nicht unbedingt den frischesten Eindruck gemacht. Seine Haare waren so lang wie die von Aerosmith in den Achtzigern, durch einen Mittelscheitel geteilt und ein wenig fettig. Glattrasiert habe ich ihn wohl noch nie gesehen, er trug aber auch keinen richtigen Bart oder auch nur echte, coolgepflegte Miami Vice -Stoppeln. Die sichtbaren Teile seines Gesichts waren von Aknenarben übersät, seine Arbeitsstiefel so abgestoßen, dass sie fast weiß waren. Seine Jeans sah aus, als wäre eine Büffelherde darüber hinweggetrampelt, und sie war zu weit um die Hüften, wodurch er beim Bücken dieses immer wieder faszinierende Bauarbeiter-Dekolleté präsentierte. Er hatte eine Schachtel Camels in den Ärmel gekrempelt. Seine Zähne waren vom Rauchen dunkelgelb wie ein Ticonderoga-Bleistift.
»Du siehst echt beschissen aus«, meinte er.
»Wenn sogar dir das auffällt«, erwiderte ich, »will das was heißen.«
Das gefiel ihm. Wir nannten ihn Squares, eine Kurzform von Four Squares, wegen der Tätowierung auf seiner Stirn. Es waren, na ja, eben vier Quadrate, zwei mal zwei, sah also genauso aus wie das Four-Squares-Spielfeld, das man manchmal noch auf alten Schulhöfen sieht. Jetzt, wo Squares ein angesagter Yoga-Lehrer mit eigenen Unterrichts-Videos und mehreren Studios war, gingen die meisten Leute davon aus, dass das Tattoo irgendein bedeutsames Hindu-Symbol darstellte. Das ist falsch.
Es war früher mal ein Hakenkreuz gewesen. Er hatte einfach vier Striche ergänzt. Und so mit der ganzen Sache abgeschlossen. Ich konnte mir das nicht recht vorstellen. Von allen Menschen,
die ich kenne, ist Squares vermutlich
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