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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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hatten die Behörden und die Presse das als ziemlich nebensächlich abgetan – ich hätte schließlich ein persönliches Interesse daran, die Unschuld meines Bruders zu beweisen  –, trotzdem ist es wichtig, wie wir auf unsere Theorie gekommen sind. Unsere Familie hatte schließlich die Wahl. Wir konnten akzeptieren, dass mein Bruder grundlos eine hübsche junge Frau umgebracht hatte und dann ohne ersichtliches Einkommen elf Jahre lang untergetaucht war (und zwar – vergessen Sie das nicht – trotz umfangreicher Medienberichterstattung und einer intensiven polizeilichen Fahndung) – oder wir konnten glauben, dass er einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit Julie Miller gehabt hatte (in diesem Punkt war die Beweislage eindeutig), und dass derjenige, der ihm solche Schwierigkeiten bereitet und solche Angst eingejagt hatte, und der womöglich auch in jener Nacht um das Haus in der Coddington Terrace herumgeschlichen war, ihm den Mord in die Schuhe geschoben und dafür gesorgt hatte, dass seine Leiche nie gefunden wurde.
    Ich behaupte nicht, dass alles perfekt zusammenpasste. Aber wir kannten Ken. Das, was sie ihm unterstellten, hatte er sicher nicht getan. Wie also sollte das Ganze sonst abgelaufen sein?
    Manche Menschen hielten unsere Theorie für plausibel, die meisten davon waren allerdings ganz wild auf Verschwörungstheorien  – die gleichen Leute, die auch glauben, dass Elvis und Jimi Hendrix zusammen in irgendwelchen Clubs auf den Fidschi-Inseln jammen. Wenn ihre Thesen in den Fernsehberichten
überhaupt einmal zur Sprache kamen, wurden sie so ironisch vorgebracht, dass man den Fernseher geradezu grinsen sah. Mit der Zeit hatte ich aufgehört, öffentlich für Ken einzutreten. Es mag etwas selbstsüchtig klingen, aber ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich mein eigenes Leben führen musste. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen und nicht nur als Bruder eines flüchtigen Mörders bekannt sein.
    Die Entscheidungsträger bei Covenant House hatten mich mit Sicherheit nur unter größten Bedenken eingestellt. Wer wollte ihnen das zum Vorwurf machen? Obwohl ich Senior Director bin, erscheint mein Name nicht auf dem Briefkopf. Bei Benefizveranstaltungen halte ich mich im Hintergrund. Ich trete fast nie öffentlich in Erscheinung. Und eigentlich bin ich ganz zufrieden damit.
    Wieder betrachtete ich das Bild des Mannes, den ich so gut kannte und der mir doch gänzlich unbekannt war.
    Hatte meine Mutter mich von Anfang an belogen?
    Hatte sie Ken heimlich unterstützt, während sie meinem Vater und mir erzählte, dass sie ihn für tot hielt? Wenn ich darüber nachdenke, war meine Mutter eigentlich immer die stärkste Verfechterin der Ken-ist-tot-These gewesen. Hatte sie ihm die ganze Zeit heimlich Geld zukommen lassen? Hatte Sunny von Anfang an gewusst, wo er war?
    Darüber musste ich nachdenken.
    Ich löste meinen Blick von dem Foto und öffnete den Küchenschrank. Ich hatte bereits entschieden, heute Morgen nicht nach Livingston zu fahren – ich hätte schreien können bei dem Gedanken, noch einen Tag in diesem sargähnlichen Haus zu verbringen –, außerdem musste ich wirklich zur Arbeit. Meine Mutter hätte bestimmt nicht nur Verständnis dafür gehabt, sondern mich sogar noch ermuntert. Also machte ich mir eine Schale Golden-Graham-Frühstücksflocken und rief Sheilas
Anrufbeantworter im Büro an. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte, und bat sie, mich zurückzurufen.
    Meine Wohnung – na ja, inzwischen ist es unsere Wohnung – liegt an der Ecke 24th Street und 9th Avenue, ganz in der Nähe des Chelsea Hotel. Die siebzehn Blocks bis zum Covenant House, das an der 41st Street in der Nähe des West Side Highway liegt, gehe ich normalerweise zu Fuß. Vor den großen Säuberungsaktionen an der 42nd Street war diese übel riechende Gegend ein Zentrum schlimmster menschlicher und unmenschlicher Erniedrigungen und damit der ideale Ort für ein Straßenkinderasyl. Die 42nd Street war eine Art Tor zur Hölle gewesen, ein Ort der aberwitzigen brünstigen Vermischung unterschiedlicher Spezies. Pendler und Touristen flanierten an Prostituierten, Drogenhändlern, Zuhältern, Head Shops, Pornoläden und -kinos vorbei und waren am Ende entweder erregt oder wollten dringend unter die Dusche und sich eine große Dosis Penizillin spritzen lassen. Meiner Ansicht nach war die Perversion so schmutzig und beschämend, dass sie einen deprimieren musste. Ich bin ein Mann. Ich habe ähnliche Bedürfnisse und Gelüste wie die

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