Papilio Mariposa
E s war vor ein paar Jahren
in Venedig. Ein Sonntag im Spätsommer. Die Messe in
San Marco war zu Ende, und die Menge strömte aus
dem Dome auf den Platz. Ein volksbewegtes, buntes
Treiben. Amerikanische Matrosen — von dem Kriegsschiff
drüben auf der Reede — mit weißen Kappen und
wiegend-breitem Gange, zierliche Venezianerinnen gesenkten
Blicks auf hohen Stöckeln trippelnd, behäbige
Deutsche und schöne, hochbeinige Schwedinnen. Fascistische 1 ) Centurien heranmarschierend im Gleichschritt
mit Gesang. O bellezza, giovinezza . . .
Ich saß mit Désirée im Café Florian, um all die
Schönheit in Muße zu genießen.
Ringsum das festliche Gewühl der Menschen, die
zarte Gliederung der Säulengänge und das goldne Mosaik
des Domes. Dahinter das Meer, dessen Fluten im
Sonnenglanz wie Perlmutter und Smaragd erglühten.
Und darüber der Himmel, auf dessen zart azurnem
Grunde im leichten Spiel des Windes silbernes Gewölk
dahintrieb.
Es war ein Anblick, so selten und so köstlich, daß
ihn unser Herz als unvergessenes Glück bewahrt. Man
sieht und leidet, man liebt durch den ergriffenen Blick.
Da plötzlich ging ein Wogen durch die Menge. In
allen Sprachen rief es »Schau dorthin«, und aller
Blicke richteten sich aufwärts.
Am Südende der Piazetta stehen zwei granitene Säulen,die eine mit der Statue eines Heiligen, die andere
mit dem bronzenen Flügellöwen von San Marco. Nach
diesen beiden Säulen blickten all die vielen Hunderte,
schweigend, in atemlosem Staunen.
1) faschistische politische Gruppen in Italien (d. Hrsg.)
Und es war auch staunenswert, was da zu sehen war.
Auf der einen Säule ruhte wie immer der geflügelte
Löwe. Aber auf der anderen — war das ein Sinnentrug,
die Spiegelung einer Fata Morgana? Da ruhte er wiederum,
friedlich zu Füßen des Heiligen gelagert, eine
sinnvolle Verkörperung der Legende.
Nieder sank die andächtige Menge, bekreuzte sich
und pries dies sichtbare Wunder Gottes.
Aber da begab sich ein noch größeres Wunder.
Während die Menge entgeistert emporstarrte, hatte
sich auf dem Platze ein dichter Taubenschwarm niedergelassen,
die berühmten Tauben von San Marco,
die Lieblinge der Fremden. Plötzlich erhob sich der
Löwe, reckte seine Schwingen und stieß hinab auf den
Taubenschwarm. Während die entsetzte Menge nach
allen Richtungen auseinanderstob, schlug er zwei oder
drei Tauben nieder und zerriß sie. Dann setzte er sich
auf die Hinterbeine und ließ einen kurzen Laut, halb
Knurren und halb Pfauchen, hören.
War’s überhaupt ein Löwe? Bald schien es eine riesige
Katze, bald eine große dänische Dogge. Aber Flügel
hatte es; mächtige wüstenfarbene Flügel.
Schon wollten sich einige Carabinieri auf das Tier
stürzen, um es zu fangen, da schwang es sich auf, flog
hoch empor und verschwand in den Lüften.
N un muß ich aber in meiner
Erzählung zurückgreifen. Es war im Sommer 1918,
in Albanien.
Ich war nach meiner Verwundung felddienstuntauglich
erklärt und Auditor — in Deutschland sagt man
Kriegsgerichtsrat — geworden. Nun war ich Leiter
eines Feldgerichts da unten.
Es war kein leichter Dienst in diesem schönen, aber
wilden und vom Fieber verseuchten Lande, unter einer
Bevölkerung, deren überwiegende Mehrheit die österreichisch-ungarische
Kriegsmacht mit tückischem
Hasse verfolgte. Die Anforderungen an unsere Kampftruppen
waren groß, die Verpflegung karg und das
Klima mörderisch. Kein Wunder, daß sich die Disziplin
merklich lockerte und daß die Zahl der Deserteure
und Überläufer wuchs.
Längere Beschäftigung mit der Strafjustiz führte bei
beschränkten Charakteren zur Abstumpfung, bei einsichtsvollen
zur Verzweiflung an dem Sinne menschlicher
Gerechtigkeit.
»Mehr Strenge, Herr Hauptmann«, pfauchte mich
mein Divisionär immer wieder an, »mehr militärischen
Geist! Abschreckung muß sein!«
Mochte er pfauchen.
Wem war es zunutze, wenn hier irgendein armer
Teufel an die Mauer gestellt und zusammengeschossen
wurde, nur damit es dort draußen an der Front
im Tagesbefehl verlautbart wurde, zum warnenden
Beispiele?
Eines Tages langte wieder einmal eine Anzeige einer
Feldkompanie bei meinem Gerichte ein. Dem Angezeigten
wurde eine ganze Reihe von aufrührerischenkriegs- und armeefeindlichen Äußerungen zur Last gelegt.
Der Kommandant hatte sich persönlich beim Divisionär
gemeldet, hatte erklärt, er wisse sich nicht mehr
Rat zu schaffen, dermaßen nahmen die Kriegsmüdigkeit
und Unzufriedenheit seiner Leute überhand;
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