Kein Lebenszeichen
Schauer den Rücken hinuntergelaufen wäre, wenn er auf dem Flur an mir vorbeiging, dass er Mitschülern den Schädel zerschlagen und bei dem Geräusch lachen würde … das wollte mir einfach nicht in den Kopf.
Ich legte das Eis wieder auf meine Nase und zuckte zusammen, als der Beutel die Haut berührte.
Squares schüttelte den Kopf. »Junge, Junge.«
»Schade, dass du nicht Arzt geworden bist.«
»Wahrscheinlich ist die Nase gebrochen«, sagte er.
»Dachte ich mir.«
»Soll ich dich ins Krankenhaus fahren?«
»Nee, ich bin hart im Nehmen.«
Er musste kichern. »Die können da eh nicht viel machen.« Dann schwieg er einen Moment und kaute auf seiner Wange herum. »Es gibt was Neues.«
Sein Tonfall gefiel mir nicht.
»Dein Lieblings-FBI-Agent hat mich angerufen. Joe Pistillo.«
Wieder nahm ich das Eis von der Nase. »Haben sie Sheila gefunden?«
»Weiß ich nicht.«
»Was wollte er?«
»Hat er mir nicht gesagt. Er hat mich nur gebeten, mit dir bei ihm vorbeizukommen.«
»Wann?«
»Jetzt. Er meinte, es wäre ein großes Entgegenkommen von ihm, dass er mich anruft.«
»Wieso sollte er mir entgegenkommen?«
»Ich hab absolut keinen Schimmer.«
»Mein Name ist Clyde Smart«, sagte der Mann mit der sanftesten Stimme, die Edna Rogers je gehört hatte. »Ich bin Gerichtsmediziner hier im County.«
Edna Rogers sah, wie ihr Mann Neil dem Fremden die Hand schüttelte. Sie nickte ihm nur kurz zu. Der weibliche Sheriff war auch da. Und einer ihrer Hilfssheriffs. Ihre Gesichter waren angemessen ernst. Der Mann namens Clyde versuchte, ein paar tröstende Worte zu sagen. Edna Rogers hörte nicht hin.
Schließlich trat Clyde Smart an den Untersuchungstisch. Neil und Edna Rogers, seit zweiundvierzig Jahren verheiratet, standen nebeneinander ohne sich zu berühren. Sie konnten sich gegenseitig keine Kraft geben. Es war Jahre her, seit sie sich das letzte Mal gegenseitig gestützt hatten.
Endlich hörte der Gerichtsmediziner auf zu reden und zog das Laken zurück. Als Neil Rogers Sheilas Gesicht sah, taumelte er wie ein angeschossenes Tier. Er sah auf und stieß einen Schrei aus, der Edna an den eines Kojoten bei einem aufkommenden Sturm erinnerte. Noch ehe sie selbst hingesehen hatte, entnahm sie dem Leiden ihres Mannes, dass ihnen keine Gnade gewährt wurde, dass nicht in letzter Sekunde noch ein Wunder geschehen war. Sie nahm all ihren Mut zusammen und betrachtete das Gesicht ihrer Tochter. Sie streckte die Hand aus – der mütterliche Wunsch, Trost zu spenden, versiegt selbst mit dem Tod nicht –, doch dann hielt sie inne.
Edna sah weiter auf die Leiche hinunter, bis sie vor ihren Augen zu verschwimmen schien, bis sie zu sehen meinte, wie Sheilas
Gesicht sich verformte, wie die Jahre rückwärts liefen, eine Schicht nach der anderen verschwand, bis ihre Erstgeborene wieder ihr Baby war, ihr kleines Mädchen, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte, so dass ihre Mutter eine zweite Chance bekam, es richtig zu machen. Und dann fing Edna Rogers an zu weinen.
20
»Was ist mit Ihrer Nase passiert?«, fragte Pistillo.
Wir waren wieder in seinem Büro. Squares wartete draußen. Ich saß in dem Lehnstuhl vor Pistillos Schreibtisch. Jetzt sah ich auch, dass sein Stuhl etwas höher war als meiner, wahrscheinlich zum Zwecke der Einschüchterung. Claudia Fisher, die Agentin, die mich im Covenant House aufgesucht hatte, stand mit verschränkten Armen hinter mir.
»Sie sollten den anderen Typen sehen«, sagte ich.
»Waren Sie in eine Schlägerei verwickelt?«
»Ich bin hingefallen«, entgegnete ich.
Pistillo glaubte mir nicht, doch das machte nichts. Er legte beide Hände auf den Schreibtisch. »Wir möchten das Ganze gern noch einmal mit Ihnen durchgehen«, sagte er.
»Was möchten Sie durchgehen?«
»Wie Sheila Rogers verschwunden ist.«
»Haben Sie sie gefunden?«
»Bitte gedulden Sie sich noch etwas.« Er hustete in seine Faust. »Wann hat Sheila Rogers Ihre Wohnung verlassen?«
»Warum fragen Sie?«
»Bitte, Mr Klein, wenn Sie mir einfach antworten könnten?«
»Ich glaube, sie ist gegen fünf Uhr morgens gegangen.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Glaube«, sagte ich. »Ich habe glaube gesagt.«
»Warum sind Sie nicht sicher?«
»Ich habe geschlafen. Ich meine gehört zu haben, wie sie gegangen ist.«
»Um fünf?«
»Ja.«
»Haben Sie auf die Uhr geschaut?«
»Soll das ein Witz sein? Das weiß ich nicht.«
»Wie hätten Sie sonst wissen können, dass es fünf Uhr war?«
»Meine tolle
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