Kein Lebenszeichen
versuchte, die Fingernägel in seine Unterarme zu bohren, doch die waren wie Mahagoni. Der Druck in meinem Kopf wurde stärker, steigerte sich bis ins Unerträgliche. Ich schlug wild um mich. Mein Angreifer rührte sich nicht. Mein Schädel fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Und dann hörte ich die Stimme.
»Hey, Willie-Boy.«
Diese Stimme.
Ich erkannte sie sofort. Ich hatte sie seit – Herrgott, ich versuchte, mich zu erinnern – vielleicht zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr gehört. Auf jeden Fall seit Julies Tod nicht mehr. Aber manche Laute, vor allem Stimmen, werden in irgendeiner besonderen Hirnwindung gespeichert, im Überlebensregal, wenn man so will, und sobald man sie hört, verkrampft sich jeder Muskel des Körpers, weil er die Gefahr erkennt.
Ganz plötzlich gab er meinen Hals frei. Ich wand mich würgend auf dem Boden und versuchte, einen eingebildeten Fremdkörper in meiner Luftröhre loszuwerden. Lachend rollte er sich von mir herunter. »Du bist ein bisschen schlapp geworden, Willie-Boy.«
Ich drehte mich auf den Rücken und rutschte rückwärts davon. Jetzt bestätigten meine Augen das, was meine Ohren mir schon verraten hatten. Es war kaum zu glauben. Er hatte sich verändert. Aber er war es.
»John?«, sagte ich. »John Asselta?«
Er lächelte kalt. Ich spürte, wie mich die Vergangenheit wieder einholte. Angst stieg in mir auf – eine Angst, die ich seit meiner Jugendzeit nicht mehr verspürt hatte. Der Ghost – alle hatten ihn so genannt, obwohl keiner den Mut gehabt hatte, es ihm ins Gesicht zu sagen – hatte immer diese Wirkung auf mich gehabt. Ich glaube nicht, dass ich der Einzige war, dem es so
ging. Er jagte so ziemlich jedem Angst ein, dabei war ich eigentlich immer geschützt gewesen. Ich war Ken Kleins kleiner Bruder. Dem Ghost hatte das gereicht.
Ich war schon immer ein Waschlappen. Mein Leben lang bin ich körperlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen. Manche Leute schließen daraus, dass ich reif und besonnen bin, doch das stimmt nicht. In Wahrheit bin ich ein Feigling. Ich habe eine Heidenangst vor Gewalt. Das mag normal sein – der Überlebensinstinkt und so –, aber ich schäme mich trotzdem dafür. Mein Bruder, der seltsamerweise der beste Freund des Ghosts war, hatte diese beneidenswerte Aggressivität, die die wirklich Großen von den Möchtegerns unterscheidet. Sein Tennisstil zum Beispiel hatte viele an den jungen John McEnroe erinnert – insbesondere das Konkurrenzdenken, aus dem heraus er es wie ein Kampfhund mit der ganzen Welt aufnahm, auf keinen Fall verlieren wollte und sich immer ein kleines bisschen zu weit aus dem Fenster lehnte. Schon als Kind hatte er seine Gegner niedergekämpft – und war dann auf ihren Überresten herumgetrampelt. So bin ich nie gewesen.
Ich rappelte mich auf. Asselta erhob sich in einer gleichmäßigen Bewegung, wie ein Geist aus dem Grab. Er breitete die Arme aus. »Willst du deinen alten Freund nicht umarmen, Willie-Boy?«
Er stellte sich vor mich, und bevor ich reagieren konnte, hatte er die Arme um mich gelegt. Er war ziemlich klein, dabei war sein Oberkörper eigenartig lang gezogen und die Arme wirkten kurz. Er drückte mir seine Wange an die Brust. »Ist lange her«, sagte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen und womit ich anfangen sollte. »Wie bist du hier reingekommen?«
»Was?« Er ließ mich los. »Oh, die Tür stand offen. Entschuldige,
dass ich dich so überfalle, aber …« Er zuckte lächelnd die Achseln. »Du hast dich kein bisschen verändert, Willie-Boy. Gut siehst du aus.«
»Du hättest nicht einfach so …«
Er legte den Kopf schief, und ich erinnerte mich, wie er immer grundlos um sich geschlagen hatte. John Asselta war ein Klassenkamerad von Ken gewesen. Die beiden waren zwei Klassen über mir auf die Livingston High gegangen. Er war der Kapitän der Ringer-Mannschaft und zwei Jahre lang Leichtgewichtsmeister von Essex County gewesen. Wahrscheinlich hätte er auch die Landesmeisterschaft gewonnen, doch da wurde er disqualifiziert, weil er seinem Gegner absichtlich die Schulter ausgekugelt hatte. Sein dritter grober Regelverstoß. Ich weiß noch, wie sein Gegner vor Schmerzen schrie. Und auch, wie einigen Zuschauern bei dem Anblick des schlaff herabbaumelnden Arms übel wurde. Und ich erinnere mich an Asseltas sprödes Lächeln, als sie seinen Gegner auf der Trage abtransportierten.
Mein Vater hatte behauptet, der Ghost hätte einen Napoleon-Komplex. Die
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