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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Erklärung kam mir zu einfach vor. Ich weiß nicht, ob sich der Ghost so benahm, weil er sich beweisen musste, weil er ein zweites Y-Chromosom hatte oder weil er einfach der hinterhältigste Dreckskerl war, den die Welt je gesehen hatte.
    Auf jeden Fall war er ein Psychopath.
    Das war unübersehbar. Ihm machte es Spaß, Menschen zu verletzen. Eine Aura der Zerstörung umgab jeden seiner Schritte. Selbst die kräftigen Sportler machten einen Bogen um ihn. Man sah ihm nicht in die Augen und achtete darauf, seinen Weg nicht zu kreuzen, weil man nie wusste, ob er das nicht als Provokation auffassen würde. Er schlug ohne Zögern zu. Er brach einem die Nase. Er trat einem in die Eier. Er
rammte einem die Finger in die Augen. Er griff einen von hinten an.
    Als ich in der zehnten Klasse war, hatte er Milt Saperstein eine Gehirnerschütterung verpasst. Saperstein, ein Neuntklässler mit allen Kainsmalen des Strebers, bis hin zum Polyesterhemd mit Plastik-Taschenschutz für Stifte, hatte den Fehler gemacht, sich an den Spind des Ghosts zu lehnen. Der Ghost hatte gelächelt und ihm einen Klaps auf den Rücken gegeben. Am gleichen Tag, Saperstein war gerade von einem Seminarraum zum nächsten unterwegs, kam der Ghost von hinten angerannt und donnerte Milt den Unterarm an den Kopf. Saperstein hatte ihn gar nicht gesehen. Er ging zu Boden, und der Ghost trat ihm lachend auf den Schädel. Milt musste in die Notaufnahme von St. Barnabas eingeliefert werden.
    Keiner hatte etwas gesehen.
    Im Alter von vierzehn Jahren hat der Ghost – wenn die Legende stimmt – einen Nachbarshund umgebracht, indem er ihm Feuerwerkskörper in den After steckte. Noch schlimmer – schlimmer als so ziemlich alles andere – war allerdings das Gerücht, dass der Ghost im zarten Alter von zehn Jahren einen Jungen namens Daniel Skinner mit einem Küchenmesser erstochen haben soll. Angeblich hatte Skinner, der ein paar Jahre älter war, auf dem Ghost herumgehackt, und der Ghost hatte sich mit einem Messerstich direkt ins Herz revanchiert. Die Gerüchte besagten auch, dass er einige Zeit im Jugendgefängnis und in Therapie verbracht hätte, dass beides aber nichts genützt hatte. Ken hatte immer behauptet, nichts davon zu wissen. Ich hatte meinen Vater einmal danach gefragt, doch er hatte sich nicht dazu geäußert.
    Ich versuchte, die Vergangenheit beiseite zu schieben. »Was willst du, John?«
    Ich hatte nie verstanden, warum mein Bruder mit ihm befreundet
war. Unsere Eltern waren auch nicht sehr glücklich darüber, obwohl der Ghost in Gegenwart Erwachsener recht charmant sein konnte. Seine fast albinoartige Hautfarbe – daher auch der Spitzname – stand im krassen Widerspruch zu seinen sanften Gesichtszügen. Er war fast hübsch, hatte lange Wimpern und ein Dudley-Do-Right- Kinn mit riesigen Grübchen. Ich hatte gehört, dass er nach dem Schulabschluss zum Militär gegangen sei. Angeblich war er an irgendwelchen geheimen Einsätzen mit speziellen Sonderkommandos beteiligt gewesen, Green Berets oder so. Aber niemand konnte das wirklich bestätigen.
    Wieder legte der Ghost den Kopf schräg. »Wo ist Ken?«, fragte er in seiner samtigen Ruhe-vor-dem-Schlag-Stimme.
    Ich antwortete nicht.
    »Ich bin lange weg gewesen, Willie-Boy. Im Ausland.«
    »Und was hast du da gemacht?«, fragte ich.
    Wieder entblößte er seine Zähne. »Wo ich jetzt wieder zurück bin, wollte ich meinen besten alten Kumpel mal besuchen.«
    Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Aber plötzlich fiel mir wieder ein, wie ich gestern auf dem Balkon gestanden hatte. Der Mann, der mich von der Straßenecke beobachtet hatte, war der Ghost gewesen.
    »Also, Willie-Boy, wo finde ich ihn?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Er legte sich die Hand ans Ohr. »Wie bitte?«
    »Ich weiß nicht, wo er ist.«
    »Aber wie ist das möglich? Du bist sein Bruder. Er hat dich geliebt.«
    »Was willst du hier, John?«
    »Hör mal«, sagte er und zeigte wieder die Zähne. »Was ist eigentlich aus deiner alten High-School-Liebe Julie Miller geworden? Habt ihr geheiratet?«

    Ich starrte ihn an. Er lächelte nur. Ich wusste, dass er mich verarschte. Eigenartigerweise war er mit Julie befreundet gewesen. Das habe ich nie verstanden. Julie hatte behauptet, sie sähe etwas in ihm – da sei etwas unter der feindseligen Psychose. Ich habe einmal im Scherz gesagt, sie müsse ihm einen Stachel aus der Pfote gezogen haben. Ich fragte mich, wie ich auf seine Frage reagieren sollte. Ich dachte an Flucht,

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