Kein Lebenszeichen
wusste auch, dass ich mich dieses Mal nicht wieder davon erholen würde. Es gibt Schläge, die werfen einen um, aber hinterher steht man wieder auf – so wie bei der Sache mit Ken und Julie. Jetzt war das anders. Die unterschiedlichen Eindrücke und Gefühle überschlugen sich in mir. Aber die Verzweiflung dominierte.
Ich würde nie wieder mit Sheila zusammen sein. Jemand hatte die Frau ermordet, die ich liebte.
Ich konzentrierte mich auf den zweiten Teil. Ermordet. Ich dachte an ihre Vergangenheit, an die Hölle, die sie durchgemacht hatte. Ich dachte daran, wie tapfer sie gekämpft hatte, und daran, wie jemand – wahrscheinlich jemand aus ihrer Vergangenheit – sich hinterrücks angeschlichen und ihr das alles genommen hatte.
Langsam mischte sich Wut in meine Gefühle.
Ich ging zu meinem Schreibtisch, beugte mich vor und griff ganz hinten in die unterste Schublade. Ich holte die Samtschachtel heraus, holte tief Luft und öffnete sie.
Der runde Diamant auf dem Ring hatte 1,3 Karat, Farbe G und war von makelloser Reinheit. Er saß auf einem schlichten Platinring mit zwei zusätzlichen Baguette-Diamanten. Vor zwei Wochen hatte ich ihn in einem kleinen Laden im Diamantenbezirk an der 47th Street gekauft. Bisher hatte ihn nur meine Mutter gesehen. Ich hatte Sheila den Heiratsantrag schon früher machen wollen, damit Mom das noch miterlebte. Doch sie hatte seitdem keinen guten Tag mehr gehabt. Also hatte ich gewartet. Trotzdem tröstete es mich, dass sie noch erfahren hatte, dass ich eine Gefährtin fürs Leben gefunden hatte. Und dass sie mit meiner Wahl mehr als einverstanden gewesen war. Weil meine Mutter im Sterben lag, hatte ich noch abgewartet und Sheila den Ring erst später überreichen wollen.
Wir hatten uns geliebt. Ich hätte meinen Heiratsantrag auf irgendeine altmodische, ungelenke, halbwegs originelle Art gemacht, sie hätte feuchte Augen bekommen, dann hätte sie ja gesagt und mich umarmt. Wir hätten geheiratet und wären ein Leben lang zusammengeblieben. Es wäre toll gewesen.
Aber irgendjemand hatte mir das alles genommen.
Die Risse in der Mauer der Realitätsverleugnung wurden größer. Trauer überkam mich und nahm mir die Luft zum Atmen. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und drückte die Knie an die Brust. Ich schaukelte vor und zurück und fing an zu weinen, richtig zu heulen, jämmerlich und herzzerreißend zu schluchzen.
Ich weiß nicht, wie lange. Aber irgendwann zwang ich mich, aufzuhören. Ich entschloss mich, gegen die Trauer anzukämpfen. Trauer lähmt. Wut nicht. Und die Wut war auch noch da. Sie lauerte auf ihre Chance.
Also gab ich sie ihr.
22
Als Katy Miller ihren Vater laut werden hörte, blieb sie in der Tür stehen.
»Was wolltest du bei denen?«, schrie er.
Ihre Eltern standen im Wohnzimmer. Wie so vieles im Haus hatte es den Charme eines Hotelkettenzimmers. Die Möbel waren praktisch, blank poliert, robust und absolut nicht gemütlich. An den Wänden hingen Stillleben und Ölbilder von Segelschiffen. Es gab keine Figurinen, keine Reisesouvenirs, keine Sammlungen und keine Familienfotos.
»Ich wollte ihnen mein Beileid aussprechen«, sagte ihre Mutter.
»Warum denn das, zum Teufel?«
»Ich fand, es gehört sich so.«
»Es gehört sich so? Ihr Sohn hat unsere Tochter ermordet.«
»Ihr Sohn«, wiederholte Lucille Miller. »Nicht sie.«
»Komm mir nicht mit dem Scheiß. Sie hat ihn erzogen.«
»Trotzdem ist sie nicht für seine Taten verantwortlich.«
»Das hast du vor kurzem aber noch anders gesehen.«
Ihre Mutter gab keinen Millimeter nach. »Das sehe ich schon lange so«, entgegnete sie. »Ich habe es nur nicht gesagt.«
Warren Miller wandte sich ab und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Und dieser Trottel hat dich rausgeschmissen?«
»Er trauert. Er hat einfach die Beherrschung verloren.«
»Ich will nicht, dass du da noch mal hingehst«, sagte er und drohte hilflos mit dem Zeigefinger. »Hast du verstanden? Soweit wir wissen, hat sie diesem Drecksack, diesem Mörder geholfen, sich zu verstecken.«
»Na und?«
Katy unterdrückte ein Aufkeuchen. Mr Millers Kopf schoss herum. »Was?«
»Sie war seine Mutter. Hätten wir es etwa anders gemacht?«
»Was willst du damit sagen?«
»Wenn es andersrum gewesen wäre. Wenn Julie Ken umgebracht hätte und gezwungen gewesen wäre, sich zu verstecken? Was hätten wir dann getan?«
»Das ist doch Blödsinn.«
»Nein, Warren, das ist kein Blödsinn. Es ist eine ernst gemeinte Frage. Ich will von
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