Kein Lebenszeichen
verkauft hatte.
»Hey, ihr kriegt das Geld«, sagte Morty. »Das wisst ihr doch.«
»Aufstehen.«
Der Mann nahm die Pistole weg. Morty hob den Kopf. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass der Mann einen Schal ums Gesicht gebunden hatte.
Morty musste an die Radiosendung The Shadow aus seiner Kindheit denken. »Was wollen Sie?«
»Ich brauche deine Hilfe, Morty.«
»Kennen wir uns?«
»Steh auf.«
Morty gehorchte. Er schwang die Beine aus dem Bett. Als er sich erhob, drehte sich alles um ihn. Er geriet ins Stolpern – er war genau in der Phase, wo der Alkoholrausch langsam abklingt
und der Kater düster wie ein nahender Sturm am Horizont aufzieht.
»Wo ist deine Arzttasche?«, fragte der Mann.
Morty entspannte sich. Darum ging es also. Er suchte sein Gegenüber nach einer Wunde ab, doch es war zu dunkel. »Geht’s um Sie?«, fragte er.
»Nein. Sie ist im Keller.«
Sie?
Morty griff unters Bett und zog seine lederne Arzttasche hervor. Sie war alt und abgewetzt. Seine Initialen, die früher in Gold geglänzt hatten, waren längst verschwunden. Der Reißverschluss ließ sich nicht mehr richtig schließen. Leah hatte sie ihm vor über vierzig Jahren gekauft, als er seinen Abschluss an der Columbia Medical School gemacht hatte. Dann hatte er über dreißig Jahre als Internist in Great Neck gearbeitet. Gemeinsam hatten sie drei Söhne großgezogen. Und jetzt, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag, wohnte er hier in diesem winzigen Loch und schuldete praktisch jedem Geld oder irgendeinen Gefallen.
Spielen. Das war Mortys Lieblingslaster. Jahrelang hatte er seine Spielsucht verbergen können, hatte sich mit den bösen Geistern in seinem Inneren verbrüdert und sie doch im Zaum halten können. Schließlich waren sie dann doch übermächtig geworden. Wie immer. Manche hatten behauptet, Leah sei sein Gegengift gewesen. Vielleicht stimmte das ja. Doch als sie gestorben war, hatte er keinen Grund zum Kämpfen mehr gehabt. Er hatte sich von den bösen Geistern erobern lassen, und sie hatten ihr Bestes gegeben.
Morty hatte alles verloren, einschließlich seiner Approbation. Er war nach Westen gezogen, in dieses Dreckloch. Er spielte fast jeden Abend. Seine Jungs – sie waren alle erwachsen und hatten selbst Familien – riefen ihn nicht mehr an.
Sie gaben ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter. Sie sagten, seinetwegen sei sie vor der Zeit gealtert. Wahrscheinlich hatten sie Recht.
»Beeil dich«, sagte der Mann.
»Okay.«
Sie gingen die Kellertreppe hinunter. Morty sah, dass unten das Licht brannte. Das Gebäude, seine schäbige neue Bleibe, hatte vorher einem Bestattungsunternehmer gehört. Morty hatte die Wohnung im Erdgeschoss gemietet. Dadurch konnte er den Keller mitbenutzen – in dem man damals die Leichen aufbewahrt und einbalsamiert hatte.
In der hinteren Kellerecke stand eine rostige Spielplatzrutsche. Damit hatte man damals die Leichen in den Keller geschafft – Park and Slide. Die Wände waren gefliest, aber viele Fliesen waren gesprungen oder abgefallen. Um Wasser aus dem Hahn zu bekommen, brauchte man eine Zange. Die meisten Schranktüren fehlten. Aber der Geruch der Toten lag immer noch im Raum wie ein alter Geist, der dazu verdammt war, weiter hier zu spuken.
Die Verletzte lag auf einem Stahltisch. Morty sah sofort, dass es nicht gut um sie stand. Er sah den Mann an.
»Hilf ihr«, sagte der.
Sein Ton gefiel Morty nicht. Die Stimme klang wütend, vor allem aber lag nackte Verzweiflung darin, so dass sie in erster Linie flehentlich erschien. »Das sieht nicht gut aus«, meinte Morty.
Der Mann drückte Morty die Pistole auf die Brust. »Wenn sie stirbt, stirbst du auch.«
Morty schluckte. Das war deutlich. Er trat an den Operationstisch. Im Lauf der Jahre hatte er hier unten viele Männer behandelt – aber dies war die erste Frau. Damit verdiente er sich seinen kläglichen Lebensunterhalt. Flicken ohne Fragen.
Wenn jemand mit einer Schuss- oder Stichwunde in eine Notaufnahme kam, war der Arzt gesetzlich verpflichtet, dies der Polizei zu melden. Also kamen viele lieber in Mortys Behelfslazarett.
Er versuchte sich an die Erste-Hilfe-Lektionen an der Uni zu erinnern. Das ABC, wenn man so will – Atemwege frei machen, nötigenfalls Beatmen, Circulation – auch Kreislauf genannt – prüfen und nötigenfalls in Gang bringen. Ihr Atem ging schwer und rasselnd.
»Haben Sie ihr das angetan?«
Der Mann antwortete nicht.
Morty tat, was er konnte.
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