Kein Lebenszeichen
Eigentlich war es nur Flickwerk. Stabilisieren, dachte er. Und wenn sie stabil ist, sofort raus mit ihr.
Als er fertig war, nahm der Mann sie behutsam auf die Arme. »Wenn Sie irgendwas erzählen …«
»Das hör ich nicht zum ersten Mal.«
Der Mann trug die Frau hinaus. Morty blieb im Keller. Seine Nerven waren vom übereilten Aufstehen gereizt. Er seufzte und entschloss sich, wieder ins Bett zu gehen. Doch bevor er die Treppe hinaufging, machte Morty Meyer einen entscheidenden Fehler.
Er sah aus dem Fenster.
Der Mann trug die Frau zum Wagen. Vorsichtig, beinahe zärtlich, legte er sie auf den Rücksitz. Morty beobachtete ihn. Und dann sah er eine Bewegung.
Er kniff die Augen zusammen. Ein Schauder erfasste seinen ganzen Körper.
Noch ein Mitfahrer.
Auf dem Rücksitz saß noch ein Mitfahrer. Ein Mitfahrer, der hier absolut nichts zu suchen hatte. Instinktiv griff Morty nach dem Telefon, aber noch ehe er den Hörer abgenommen hatte, hielt er inne. Wen sollte er anrufen? Was sollte er sagen?
Morty schloss die Augen und kämpfte gegen den Drang an, etwas zu unternehmen. Er schleppte sich die Treppe hinauf, kroch wieder ins Bett und zog die Decke über sich. Dann starrte er ins Leere und versuchte, das Gesehene zu vergessen.
4
Die Nachricht, die Sheila mir hinterlassen hatte, war kurz und lieb:
Ich werde dich immer lieben.
S
Sie war nicht ins Bett gekommen. Ich nehme an, sie hat die ganze Nacht aus dem Fenster gesehen. Es war still gewesen, bis ich um fünf Uhr morgens gehört hatte, wie sie die Wohnung verließ. Für sie war das keine so ungewöhnliche Zeit. Sheila war Frühaufsteherin – eine von denen, die mich an den alten Army- Werbespot erinnern, in dem es heißt, dass man vor neun Uhr morgens mehr erledigt hat, als die meisten Menschen am ganzen Tag tun. Sie kennen diese Typen: In ihrer Gegenwart kommt man sich vor wie ein Faulenzer, und trotzdem liebt man sie dafür.
Sheila hatte mir einmal – und nur dieses eine Mal – erzählt, dass sie immer so früh aufstand, weil sie früher auf der Farm gearbeitet hatte. Als ich mich nach Einzelheiten erkundigte, hatte sie sofort wieder dichtgemacht. Die Vergangenheit lag hinter einer klar definierten Linie. Überschritt man diese Linie, so geschah das auf eigene Gefahr.
Ich war eher überrascht von ihrem Verhalten, als dass ich mir Sorgen gemacht hätte.
Ich duschte und zog mich an. Das Foto meines Bruders lag in
der Schreibtischschublade. Ich nahm es heraus und studierte es ausgiebig. Ich verspürte eine große Leere in der Brust. In meinem Kopf drehte sich alles – trotzdem überwog ein ziemlich grundsätzlicher Gedanke:
Ken hatte es geschafft.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht, warum ich all die Jahre so fest davon überzeugt gewesen war, dass Ken tot ist. Zum Teil war es die gute alte Intuition in Verbindung mit törichter Hoffnung. Ich liebte meinen Bruder. Und ich kannte ihn. Ken war nicht perfekt. Ken war reizbar und liebte Konfrontationen. Ken war in irgendeine finstere Geschichte verwickelt. Aber Ken war kein Mörder. Da war ich mir sicher.
Aber die Klein’sche Familientheorie beruhte nicht nur auf diesem absurden gemeinsamen Glauben. Erstens, wie hätte Ken eine solche Flucht überstehen sollen? Er hatte nur achthundert Dollar auf der Bank gehabt. Woher hätte er die Mittel bekommen, einer internationalen Fahndung zu entgehen? Und warum hätte er Julie umbringen sollen? Warum hatte er in den letzten elf Jahren keinen Kontakt zu uns aufgenommen? Warum war er bei seinem letzten Besuch so nervös gewesen? Warum hatte er zu mir gesagt, er sei in Gefahr? Und warum, fragte ich mich rückblickend, hatte ich ihn nicht gedrängt, mir mehr zu erzählen?
Aber das Belastendste – oder, je nach Standpunkt, Ermutigendste – war das Blut, das am Tatort gefunden worden war. Ein Teil davon war Kens Blut. Ein großer Fleck im Keller und eine Spur kleiner Tropfen, die die Treppe hinauf nach draußen führte. Und später hatten sie in einem Strauch im Garten der Millers noch einen Blutfleck entdeckt. Die Theorie der Familie Klein lautete, dass der echte Mörder Julie umgebracht und meinen
Bruder schwer verletzt hatte. Die der Polizei war einfacher: Julie hatte sich gewehrt.
Es gab noch ein weiteres Argument, das die Familientheorie stützte – allerdings hatte es direkt mit mir zu tun, und deshalb nahm es wohl niemand so richtig ernst.
Ich hatte in jener Nacht einen Mann um das Haus der Millers herumschleichen sehen.
Wie schon gesagt,
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