Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
nah waren. Seine Pupillen weiteten sich, doch dann entzog er ihr schnell seinen Blick.
Als er sich aufrichtete, war seine Miene wieder vollkommen ausdruckslos. Der ahnungslose Mather wandte sich mit einer Bemerkung über die Sängerin an ihn.
Unvermutet erhob sich Lord Ian. Der warme Druck seiner Hand verschwand, und erst da wurde Beth klar, dass er die ganze Zeit ihre Hand gehalten hatte.
»Wollen Sie etwa schon gehen?«, fragte Mather überrascht.
»Mein Bruder erwartet mich.«
Mathers Augen leuchteten auf. »Der Herzog?«
»Mein Bruder Cameron und sein Sohn.«
»Oh.« Mather wirkte enttäuscht, dennoch erhob er sich und bekräftigte sein Versprechen, mit Beth zu einem Besuch zu kommen, um sich die Sammlung anzuschauen.
Ohne einen Abschiedsgruß verließ Ian die Loge. Beth sah ihm nach, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Unter dem Papier in ihrem Handschuh bildeten sich kleine Schweißtropfen.
Mather setzte sich neben Beth und stieß einen Seufzer aus. »So, meine Liebe, da haben Sie einmal einen echten Exzentriker erlebt!«
Beth krampfte die Finger in ihren grauen Taftrock, ohne Lord Ians wärmende Hand fror sie. »Einen Exzentriker?«
»Der arme Kerl ist vollkommen verrückt. Er hat die meiste Zeit seines Lebens in einer Nervenheilanstalt verbracht, und er läuft nur deshalb wieder frei herum, weil sein Bruder, der Herzog, ihn herausgelassen hat. Aber keine Angst.« Mather ergriff ihre Hand. »Ich werde bei unserer Verabredung immer in Ihrer Nähe bleiben. Übrigens führt sich die gesamte Familie geradezu skandalös auf. Versprechen Sie mir, dass Sie nie mit einem Mitglied dieser Familie verkehren werden, wenn ich nicht dabei bin?«
Beth gab eine ausweichende Antwort. Gehört hatte sie allerdings schon vom MacKenzie-Clan und dem Herzog von Kilmorgan. Denn die alte Mrs Barrington hatte Klatsch und Tratsch aus den Adelshäusern über alles gemocht. Die MacKenzies hatten die Seiten so manches Skandalblättchens gefüllt, die Beth der alten Dame an Regenabenden vorgelesen hatte.
Lord Ian war ihr durchaus nicht verrückt vorgekommen, obgleich Beth noch nie einem Mann wie ihm begegnet war. Mathers Hand war schlaff und kalt, wohingegen Lord Ians warmer kraftvoller Händedruck in ihr ein längst vergessenes Verlangen geweckt hatte. Beth vermisste die Nähe und Zärtlichkeit, die sie mit Thomas verbunden hatte, die langen Nächte im Bett. Natürlich würde sie das Bett mit Mather teilen, doch dieser Gedanke brachte ihr Blut nicht in Wallung. Bislang hatte sie immer geglaubt, dass ihre Liebe zu Thomas besonders gewesen war und sie nicht hoffen durfte, mit einem anderen Mann Ähnliches zu empfinden. Warum aber hatten Lord Ians geflüsterte Worte sie atemlos gemacht, warum hatte ihr Herz schneller geschlagen, als er mit dem Daumen ihren Handrücken gestreichelt hatte?
Nein. Lord Ian bedeutete nichts als Ärger und Aufregung, Mather hingegen Ruhe und Sicherheit. Sie würde sich für die Sicherheit entscheiden. Ganz gewiss.
Mather hielt es noch fünf Minuten neben ihr aus, dann stand er auf. »Ich muss Lord und Lady Beresford noch meine Aufwartung machen. Es macht Ihnen doch nichts aus, meine Liebe?«
»Keineswegs«, antwortete Beth fast schon gewohnheitsmäßig.
»Sie sind ein wahrer Schatz. Ich habe Mrs Barrington gegenüber auch immer wieder beteuert, wie höflich und liebreizend Sie sind.« Mather küsste ihr die Hand und ging.
Die Sopranistin setzte zur Arie an, die Töne füllten jeden Winkel des Opernhauses. Hinter Beth steckten Mathers Tante und ihre Begleitung die Köpfe zusammen und flüsterten hinter vorgehaltenen Fächern.
Vorsichtig schob Beth die Finger unter den Saum ihres Handschuhs und zog das Papier hervor. Sie wandte den beiden alten Damen den Rücken zu, als sie leise den Brief entfaltete.
Mrs Ackerley, stand dort in sorgfältiger Handschrift,
verzeihen Sie die Anmaßung, doch möchte ich Sie vor dem wahren Charakter Sir Lyndon Mathers warnen, mit dem mein Bruder, der Herzog von Kilmorgan, gut bekannt ist. Ich möchte Sie in Kenntnis setzen, dass Mather ein Haus unweit des Strand in der Nähe vom Temple Bar unterhält, in das er sich Frauen bestellt, des Öfteren mehrere zur selben Zeit. Er bezeichnet sie als seine »Zuckerpüppchen« und bettelt darum, von ihnen als Sklave behandelt zu werden. Es sind keineswegs Kurtisanen im herkömmlichen Sinne, sondern allesamt Frauen, die verzweifelt Geld brauchen. Die Namen von fünf Frauen, mit denen er sich regelmäßig trifft, habe ich
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