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Kein Paar wie wir

Titel: Kein Paar wie wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eberhard Rathgeb
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    Sie hatten das Wünschen früh geübt und im Alter nicht verlernt, es hielt die beiden Schwestern jung. Ihr Leben war merkwürdig genug, wenn auch nicht in dem Sinne, dass sie in Katastrophen wie Krieg und Verfolgung verwickelt gewesen waren. Sie hatten das Glück, immer zur richtigen Zeit außer Landes zu sein, sie waren nicht in Deutschland, als Hitler an die Macht kam, und sie waren nicht in Argentinien, als das Militär eine Diktatur errichtete.
    In ihren letzten Jahren wohnten sie in einem Appartement in Buenos Aires. Sie hatten, wie sie betonten, mit ihrer eigenen Hände Arbeit genügend Geld in den Vereinigten Staaten verdient, um sich einen angenehmen Lebensstil zu erlauben, wobei sie im strikten Sinne niemals mit den Händen hatten arbeiten müssen, sie besaßen eine gute Schulausbildung und sprachen mehrere Sprachen fließend. Sie hatten keine anderen Geschwister, keine Ehemänner und keine Kinder. Sie hinterließen keine Verwandten, die sich um ihr Andenken hätten kümmern können, in der Art und Weise von sonntäglichen Familiengesprächen, in denen die Nachgeborenen der toten Tanten und Großmütter gedenken. Dass sie nicht zusammen gestorben sind, ist das größte Unglück ihres Lebens gewesen, wider Erwarten überlebte die ältere Schwester die jüngere um ein Jahr.
    Kaum war sie alleine auf der Welt, ging sie in ein Altersheim, um der Einsamkeit zu entfliehen, die sie in ihrem langen Leben nicht hatte kennenlernen müssen und an die sich zu gewöhnen ihr jetzt die Kraft und der Mut fehlten. Als sie den Fuß über die Schwelle des Altersheimes setzte, wusste sie, dass sie das Haus lebend nicht wieder verlassen würde.
    Den anderen Frauen im Heim erging es nicht anders, keine machte sich Illusionen über die Monate und Jahre, die ihnen noch bleiben würden. Die Aussicht auf einen nahen Tod hielt sie zusammen wie eine Gruppe von Ausflüglern, die voreinander so tun, als seien sie guter Dinge, während sie doch ein Ziel vor Augen haben, das dunkle Ahnungen in ihnen weckt. Die alten Frauen frühstückten gemeinsam, aßen zu Mittag und zu Abend, spielten miteinander Karten, aber Freunde wurden sie deswegen nicht. Tagsüber nickten sie immer wieder ein, oder sie träumten vor sich hin, oder sie vertrieben sich die Zeit mit Nichtigkeiten. Wenn sie klug und des Lebens nicht müde gewesen wären, dann hätten sie in ihren letzten Tagen mit Bedacht die Dinge gewogen, die sie in die Hände bekamen, und die Augen offen gehalten, weil jede Berührung und jeder Blick ein endgültiger Abschied sein konnten. Was sie auch anfassten, sahen, rochen, sie mussten es bald ganz hinter sich lassen, es ging ihnen verloren. Das Meer der Dinge zog sich von den alten Frauen zurück. Ihre Lebenskraft, ihre Neugier reichten nicht mehr aus für ein Blütenblatt, den Henkel einer Tasse, den Stoff einer Decke, für die Rinde eines Baumes, den Griff einer Gabel, für den Geschmack von Brot und Wasser.
    Nur frühmorgens, wenn die Tauben von den Dächern gurrten, legte sich ein Finger auf die Wunde des Abschieds, und eine Hoffnung, eine Sehnsucht kamen auf und weckten die Erinnerung an das Leben. Kaum aber war ein schwaches Licht in ihnen aufgeflackert, sanken sie wieder in sich zurück und warteten ohnmächtig, bis die Stunde gekommen war, da sie aufstehen mussten, um rechtzeitig zum Frühstück zu erscheinen, mit dem für sie ein neuer letzter Tag begann.

  2
    » Ruth!«
    Ihr Kopf schnellte hoch im Halbdunkel des Zimmers, wo sie seit Stunden am Bett ihrer Schwester ausharrte. Das Schulbuch war von ihrem Schoß gerutscht und lag auf den Holzdielen.
    Die Mutter stand hinter ihr im Flur und wartete auf eine Antwort. Ihre Haare waren nach hinten zu einem Knoten zusammengebunden und schimmerten weiß wie ein Helm aus Muschelkalk. Sie mochte das Zimmer der Kranken nicht betreten.
    Ruth drehte sich nicht um, sie schaute in das bleiche Gesicht der Schwester.
    »Das Essen steht auf dem Tisch.«
    Kein Wort verlor die Mutter über die Kranke.
    Sag doch etwas, dachte Ruth, frag, wie es ihr geht.
    Aber die Mutter schwieg und ging weg. Ihre Schritte verhallten, und in der zurückbleibenden Stille klopfte Ruths Herz laut aus Empörung und Verachtung.
    »Meine arme Vika«, sagte sie leise, »schlaf weiter, der Schlaf tut dir gut.«
    Bevor sie das Zimmer verließ, schaute sie noch einmal zurück.
    Du bleibst bei mir, nicht wahr?, dachte sie.
    Unten sprach sie mit den Eltern das Tischgebet und bat im Stillen: Lass sie wieder gesund werden.

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