Kein Paar wie wir
klopfte an die Tür, wartete und schaute schließlich hinein. Als sie die alten Frauen in ihren Betten liegen sah, dachte sie, dass sie noch schliefen, dass sie gestern zu lange auf dem Sofa gesessen und Radio gehört hatten. Doch je länger sie die beiden Schwestern betrachtete, desto unheimlicher wurde ihr zumute. Erneut rief sie ihre Namen, erst leise, dann lauter, und als keine der Alten reagierte, betrat sie das Schlafzimmer. Kaum hatte sie die Schwestern berührt, rannte sie zum Telefon und alarmierte den Notarzt.
Bis an ihr Ende quälte Ruth der Gedanke, dass sie zu wenig Tabletten eingenommen hatte, nicht aus Versehen, sondern aus Angst vor dem Tod, dass sie im entscheidenden Augenblick ihres Lebens einem Überlebensdrang nachgegeben hatte, der stärker war als ihre gut gemeinten Vorsätze vom gemeinsamen Tod, stärker als die Liebe zur Schwester.
Ein Jahr lebte sie in dem Heim zusammen mit den anderen alten Frauen, deren Namen sie sich nicht merkte und mit denen sie sich nicht unterhalten wollte, auch wenn sie neben ihnen saß. Eines Tages starb auch sie, auf einem Stuhl am offenen Fenster sitzend. Der Tod war angenehm, er nahm sie, kaum dass sie eingenickt war, bei der Hand und führte sie mit sich fort. Sie ließ es geschehen. Die junge Frau, die morgens durch den Gang lief und an die Türen klopfte, sah mit ihrem geschulten Blick sofort, dass die alte Frau auf dem Stuhl tot war.
Über den Autor
Eberhard Rathgeb
Eberhard Rathgeb wurde 1959 in Buenos Aires geboren und folgte mit vier Jahren seinen Eltern und Geschwistern nach Deutschland. Vor sieben Jahren wechselte er mit Frau und Kind aus den Städten aufs Land. Er war Feuilletonredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berliner Sonntagsausgabe.
Weitere Kostenlose Bücher