Keine Angst vor Anakondas
Moschusochse, ein Paarhufer, der zu den Ziegenartigen gehört und nicht zu den Rindern, wie oft geglaubt wird.
Sie gehen schweigend. Es ist eine Zeit, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt. Ihr Marsch erinnert an eine Prozession, deren Reliquie eine hochmoderne Highspeed-Kamera ist, die bis zu 4 000 Bilder in der Sekunde aufnehmen kann. 25 Bilder in der Sekunde ist die normale Geschwindigkeit.
Zu viert ist das Filmteam um halb vier Uhr morgens aufgebrochen. Übernachtet haben sie in einer Herberge nahe des Dovrefjell-Nationalparks, der 200 Kilometer südlich von Trondheim liegt. Ein paar Cracker, ein Kaffee und los. Jeder Einzelne wird gebraucht, um die Kameraausrüstung bergauf zu schleppen. Weit ist der Weg zu den Moschusochsen. Wieder sind sie unterwegs zu ihnen, ihre Erwartungen schwanken zwischen Hoffen und Bangen. Werden sie endlich die ersehnten Aufnahmen bekommen? Es ist nun schon der dritte Herbst, in dem sie einer geglückten Zeitlupenaufnahme eines Kampfes zwischen zwei Bullen hinterherjagen.
Niemand wohnt hier. Das Herz des Nationalparks ist ein einsames Fleckchen Erde, nicht zu vergleichen mit einem deutschen Park. Vor allem im Winter stehen die Moschusochsen hier auf den Hügeln und Bergkuppen, weil da oben der Schnee weggefegt wird. Wenn der Schnee zu tief ist, kommen die Tiere nicht mehr an die Pflanzen darunter heran und müssen hungern. In den Tälern liegt der Schnee bis zu zehn Meter hoch. Da kommen selbst die kräftigen Moschusochsen nicht durch. Sie suchen bevorzugt Hochlagen aus, die miteinander verbunden sind. So können sie im strengen Winter Hügelkuppe um Hügelkuppe kahl fressen, ohne dass sie ins Tal hinabsteigen müssen. Die einzige Straße durchquert den Nationalpark in einer Senke. So sind sie im Winter fast unerreichbar. Zu Fuß ist es für Jan Haft aussichtslos, eine Strecke von fünf bis zehn Kilometern im tiefen Schnee mit Filmausrüstung zu bewältigen. Schneemobile wären eine luxuriöse Variante, sind jedoch viel zu laut und im Nationalpark mit einem großen Genehmigungsaufwand verbunden.
Die Tierfilmer wählten eine ebenso schnelle und viel faszinierendere Variante, um in der Schneewüste der winterlichen Gebirgstundra zu den Moschusochsen zu gelangen: Hundeschlitten. Nach langem Suchen fanden sie in der Ferne eine Herde, die sich im klirrend kalten Wintersturm dicht aneinanderdrängte. Nun kommt der Nachteil der Hundeschlitten zum Tragen: Solange die Hunde laufen, sind sie ruhig; dann hören die Schlittenfahrer nur das Hecheln der Tiere und das Schleifen der Kufen im Schnee. Sobald ein Schlittengespann aber zum Stehen kommt, kläffen die Hunde, als stünde ein Bergtroll vor ihnen. Deshalb musste das Team in größerer Entfernung anhalten, sich die Schneeschuhe umschnallen und zu Fuß durch den Schnee stapfen.
Von Weitem betrachtet bildet die Herde eine Einheit aus zotteligem Fell. Hier, im Gefrierschrank Europas, sind Temperaturen von minus 30 Grad normal. Ohne eine ordentliche Speckschwarte und ein dichtes Fell, das wie ein Vorhang fast bis zu den Hufen an ihnen herabhängt, würden sie erfrieren. Kranke und ausgehungerte Tiere überleben diese extremen Bedingungen auf den Bergkuppen nicht. Die Kälber werden in die Mitte genommen und so vor dem eisigen Wind des subpolaren Winters geschützt. Alles um sie herum ist weiß. Sie wirken so verloren und deplatziert wie von der Eiszeit zurückgelassene Findlinge. Ihre Schnauzen sind weiß von Raureif. Der Zuschauer wird in eine eisige Welt mitgenommen, in der es vollkommen unmöglich erscheint, dass die Moschusochsen dieses extreme Wetter da draußen überleben können.
Als die Filmer an diesem Tag nach sieben Stunden im Schneesturm völlig durchgefroren wieder beim Schlitten ankommen, machen die eingeschneiten Hunde in Schneekuhlen ein Nickerchen. Der Schlittenführer allerdings ist sauer, weil er so lange warten musste.
Die Moschusochsen im Dovrefjell-Nationalpark bilden keinen natürlichen Bestand. Ursprüngliche Vorkommen finden sich nur noch in Kanada und Grönland. Erfolgreich ausgewildert wurden sie in Alaska, Sibirien und Norwegen, von wo aus sie später auch nach Schweden eingewandert sind. Es bedurfte mehrerer Versuche, bis es 1947 gelang, sie in Norwegen wieder erfolgreich anzusiedeln. Der Bestand liegt heute etwa bei 300 Tieren. Vor langer Zeit gab es sogar eine ganze Reihe verschiedener Moschusochsen. Aber nur die eine Art, die an extrem kalte, arktische Tundren angepasst ist, existiert noch heute. Sie
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