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Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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gesaust. Sie trug weiß glänzende Reebok-Sportschuhe und einen blauen Trainingsanzug mit goldenen Ziernähten — als wolle sie die St. Louis Rams trainieren. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert, aber spröde vom häufigen Färben. Und immer umgab sie der Geruch ihrer letzten Zigarette. Moms Make-up konnte den Schmerz über den Verlust ihres einzigen Enkelkinds kaum überdecken. Mit beeindruckender Energie saß sie Tag für Tag bei mir am Bett und strahlte eine beständige Hysterie aus. Das war gut. Es war, als wäre sie auch stellvertretend für mich hysterisch, und auf eigenartige Weise halfen ihre unkontrollierten Gefühlsausbrüche mir, ruhig zu bleiben.
    Trotz der unerträglichen Hitze — und meiner andauernden Proteste — legte Mom eine weitere Decke über mich, wenn ich schlief. Einmal wachte ich auf — natürlich schweißgebadet — und hörte, wie meine Mutter der schwarzen Krankenschwester mit der gestärkten Haube von meinem früheren Aufenthalt im St. Elizabeth erzählte, als ich erst sieben Jahre alt gewesen war.

    »Er hatte Salmonellen«, verkündete Honey mit verschwörerischem Bühnenflüstern, nur unwesentlich lauter als ein Megafon. »Einen solchen Durchfall hatte die Welt noch nicht gerochen. Es ist nur so aus ihm herausgeflossen. Der Gestank hat sich sogar in den Tapeten festgesetzt.«
    »Nach Rosen duftet er jetzt auch nicht gerade«, erwiderte die Schwester.
    Die beiden Frauen lachten.
    Am zweiten Tag meiner Erholung stand Mom über mein Bett gebeugt, als ich erwachte.
    »Kannst du dich daran noch erinnern?«, fragte sie.
    Sie hatte einen ausgestopften Oscar aus der Mülltonne in der Hand, den mir irgendjemand während meines Salmonellen-Aufenthaltes geschenkt hatte. Das Grün war zu einem hellen Mint verblichen. Sie sah die Schwester an. »Das ist Marcs Oscar«, erläuterte sie.
    »Mom«, sagte ich.
    Sie wandte sich mir wieder zu. Heute hatte sie ihr Mascara etwas zu dick aufgetragen, so dass es sich in ihren Augenfalten sammelte. »Oscar hat dir damals Gesellschaft geleistet, weißt du noch? Er hat dir geholfen, wieder gesund zu werden.«
    Ich rollte die Augen und schloss sie dann. Eine Erinnerung stieg in mir auf. Ich hatte mir die Salmonellen durch rohe Eier geholt. Mein Vater hatte immer welche in Milchshakes getan, wegen der Extraportion Protein. Ich weiß noch, was für einen Schrecken ich damals bekommen hatte, als ich gehört hatte, dass ich die Nacht im Krankenhaus verbringen musste. Mein Vater, dem kurz vorher beim Tennis die Achillessehne gerissen war, hatte ein Gipsbein und fortwährend Schmerzen. Doch als er meine Angst sah, brachte er, wie immer, ein Opfer. Nachdem er den ganzen Tag in der Fabrik gewesen war, harrte er die ganze Nacht auf dem Stuhl an meinem Krankenhausbett aus. Ich hatte
zehn Tage im St. Elizabeth verbracht. Mein Vater hatte jede Nacht auf dem Stuhl geschlafen.
    Plötzlich wandte Mom sich ab und ich sah, dass ihr dasselbe durch den Kopf gegangen war. Die Schwester entschuldigte sich schnell. Ich legte meiner Mutter eine Hand auf den Rücken. Sie bewegte sich nicht, aber ich spürte, wie ein Schauer sie erfasste. Sie starrte den ausgeblichenen Oscar in ihrer Hand an. Behutsam nahm ich ihn ihr ab.
    »Danke«, sagte ich.
    Mom wischte sich die Tränen aus den Augen. Diesmal würde Dad nicht ins Krankenhaus kommen, und obwohl ich sicher war, dass Mom ihm erzählt hatte, was geschehen war, wusste man nicht, ob er es verstanden hatte. Mit einundvierzig Jahren hatte mein Vater seinen ersten Schlaganfall gehabt — ein Jahr, nachdem er die Nächte bei mir im Krankenhaus verbracht hatte. Ich war damals acht gewesen.
    Ich habe auch noch eine jüngere Schwester, Stacy, die entweder drogenkrank ist (für die Anhänger einer politisch korrekten Sprache) oder ein Junkie (für diejenigen, die die Dinge beim Namen nennen). Manchmal sehe ich mir alte Bilder aus der Zeit vor dem ersten Schlaganfall meines Vaters an, auf denen eine junge, zuversichtliche, vierköpfige Familie und ein zotteliger alter Hund zu sehen sind, auf einem gepflegten Rasen vor einem Basketballkorb und einem von Holzkohle und Anzündern überquellenden Grill. Ich suche nach Hinweisen auf das zukünftige zahnlose Lächeln meiner Schwester, nach ihrer dunklen Seite vielleicht, nach irgendwelchen Vorzeichen. Aber ich finde keine. Das Haus haben wir noch, es kommt mir jedoch vor wie eine alte Filmkulisse. Dad lebt noch; mit seinem Absturz zerbrach allerdings alles in tausend Stücke, wie Humpty-Dumpty.

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