Keinmaerchen
Mauer nicht erreichen. Wenn er noch höher stieg, würde die Luft zu sauerstoffarm werden, um sie zu atmen. Aber es musste doch eine Möglichkeit geben, hinter die Mauer zu gelangen. Wenn nicht von oben, dann müsste irgendwo ein Eingang sein, eine Tür, ein Durchbruch oder gar ein Tunnel. Er ließ sich nach unten sacken, den Blick, nach einem Fenster suchend, auf das merkwürdige Material gerichtet. Aber da war nichts. Fast hatte er den Boden erreicht. Er würde ein wenig ausruhen und dann weitersuchen, der Gesang des Kindes klang verzweifelt und hoffnungslos. Mit einem Schrei zog Conchúbar die Beine an. Wo war der Boden, das Gras, die Felder? Unter ihm blubberte eine blutrote zähe Masse. Kein Fleckchen Land, kein Platz zum Landen, kleine blaue Feuer flackerten auf der wogenden Oberfläche, und vor ihm nur die unüberwindbare Mauer.
Geh und fürchte dich, kleiner Jahim, hallte die Stimme des Etwas durch seinen Kopf. Ja, er fürchtete sich, wie er sich noch nie zuvor gefürchtet hatte. Die Muskeln in seinen Flügeln brannten vor Anstrengung, Tränen rannen über seine Wangen und trübten seinen Blick. Hatte er den ganzen Weg in die Traumländer nur auf sich genommen, um hier zu sterben? Ganz allein und voller Angst, ohne seinem Volk auch nur irgendetwas erjagt zu haben? Nein, das konnte nicht sein, er war Conchúbar Jahim, er würde nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt.
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Unter Conchúbars Fußsohlen bildeten sich Blasen, sein Atem ging stoßweise und rasselnd. Er war an der Mauer entlang geflogen, bis er nicht mehr weiter konnte, aber nichts, kein Eingang, keine Tür, kein Zeichen, das ihm den Weg gewiesen hätte. Immer wieder sackte er hinab, verbrannte sich an rotglühender Lava und an grimmigen blauen Feuern, und in gleichem Maße, in dem die Kraft aus ihm wich, wurde das Schluchzen des Kindes lauter und lauter, es schmerzte in seinen Ohren fast noch mehr, als die Feuer an seinen Füßen und die Muskeln in seinen Flügeln.
Und dann kam die Angst.
Sie war so mächtig, so körperlich, als wäre sie selbst ein lebendiges Wesen. Sie nagte an seiner Seele, krallte sich in sein Fleisch, biss kleine Bröckchen aus seinem Herzen und verschlang sie mit höhnischem Grinsen.
Unter ihren Augen schwärten eitrige Tränen, ihre wulstigen Lippen reichten fast von einem Ohr zum anderen, zogen sich bei jedem Gelächter zurück und gaben den Blick auf schwarze, faulige Zähne frei. Sie umgarnte ihn, schmiegte sich an seinen Körper, rieb sich an seinen Lenden. Ihr Atem musste direkt den Höllenfeuern entsprungen sein, er ätzte brennende Wunden in sein Fleisch.
Und wieder die Stimme des Etwas, flüsternd und drängend: Fürchte dich, kleiner Jahim, geh und fürchte dich, fürchte dich …
„Nein!“ Mit letzter Kraft schlang er die Arme um die Furcht, presste ihren schwammigen Körper an sich und riss sie mit sich hinab. Hinein in die brodelnde Lava.
Fasziniert beobachtete er, wie sich die Haut in Fetzen von seinem Körper löste, einen Moment in der Lava trieb, und mit einem kurzen Aufflackern verbrannte. Sein Fleisch schmorte an seinem Körper, wurde dunkler, verkohlte und dann stand sein ganzer Körper in Flammen. Er streckte seine Arme aus, bewegte die Finger, die nur noch aus Knochen bestanden, tastete nach der Furcht, doch die war verschwunden.
„Ich kann atmen“, flüsterte er, „und spüre keinen Schmerz. Und ich kann sehen, auch wenn meine Augäpfel längst verbrannt sein müssen.“ Er steckte sich prüfend den Zeigefinger in eine leere Augenhöhle und lachte auf. „Das ist nicht wirklich, eine Täuschung nur.“ Mit dem letzten Wort erstarrte die eben noch brodelnde Lava und schloss ihn ein, reglos, zur Schau gestellt wie ein Drachenfalter in Bernstein. Und dann kroch die Schwärze auf ihn zu, nahm von allem Besitz, überlagerte alle Farben, unterdrückte jedes Geräusch, bis nichts mehr als Dunkelheit existierte.
Lebendige Dunkelheit.
Er war nicht allein. Er hörte nichts, sah nichts, roch nichts und doch war er sicher, dass in der Finsternis jemand lauerte. Jemand oder Etwas . Was willst du von mir, warum hältst du mich gefangen?, dachte er so nachdrücklich es ihm möglich war.
Das Etwas huschte an seinem Gefängnis vorbei. Er spürte keinen Luftzug, keine Berührung, er wusste es einfach, so wie man weiß, dass der Himmel oben ist.
Hast du vergessen, was du gelernt hast, Jahim? Du Narr! Du musst das Traumland verlassen und in ein anderes wechseln, bevor sie erwachen, das ist doch die
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