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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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den Mund, bis ihre Glieder erschlafften und sie schwieg. Dann lauschte er. Das Heulen des Windes, das Summen der Bienen. Und das Kratzen, als die Furcht die Brunnenwand erklomm und ihre Nägel über den feuchten Stein schliffen.
    Conchúbar hielt das Mädchen in seinen Armen, wiegte sie sanft hin und her, die Augen immer auf den Brunnenrand gerichtet. Seine Hände krampften sich um den leblosen Körper, er presste die Nase in das strähnige Haar, das sich über seine Arme ergoss wie träges Tümpelwasser.
    Die Furcht hatte den Brunnenrand fast erreicht, er konnte sie atmen hören, rasselnd und pfeifend, spürte ihren Herzschlag, der donnernd aus dem Schacht widerhallte, roch ihre Bosheit, die zäh und klebrig aus dem Brunnen quoll, sich über die Scherben legte, sie einhüllte und entfärbte, ihnen die Schärfe nahm, sie konturlos und brüchig werden ließ. Die Furcht bereitete sich ihren Weg. Einen Weg, der direkt zu Conchúbar führte.
    Ihre harzige Aura lähmte ihn, nahm ihm die Kraft und den Willen. Er klammerte sich an den kleinen Körper in seinen Armen, als wäre er eine Boje, die ihn vor dem Ertrinken rettete. Er versuchte die Furcht abzuschütteln, versuchte sich aus ihrem Bann zu lösen, ihren Gestank zu ignorieren. Ihr Lachen nicht zu hören. Aber er hörte es. Durchdringend wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen. Und so nah.
    "Ich bin Conchúbar Jahim, ein Jäger." Immer wieder flüsterte er die Worte, doch ihm fehlte die Kraft, sich zu erheben, der Furcht die Stirn zu bieten - oder zu fliehen. Seine Lider waren schwer. So schwer.
    Fürchtest du dich? Das ist gut. Fürchte dich, kleiner Jahim. Fürchte dich.
    "Sei still! Was willst du denn von mir?" Conchúbar riss die Augen auf und sprang auf die Füße, sah sich nach dem Etwas um, bereit, seine Krallen in sein Maul zu stoßen, tief in sein Innerstes zu greifen und ihm das Herz herauszureißen, damit es endlich schwieg. Aber da war kein Etwas, da war auch keine Furcht, da war nichts, kein Brunnen, kein Baum, keine Scherben, keine Farben. Nichts. Nur der schlaffe Körper des Mädchens in seinen Armen, leblos und viel zu schwer für ein Kind.
    Unter Conchúbars Füßen war nichts, kein Weg, keine Erde, kein Gras, über seinem Kopf kein Himmel, keine Wolken, kein Geräusch um ihn herum. Er blähte die Nasenflügel und roch - nichts. Was sollte er jetzt tun? Konnte man auf Nichtwegen gehen? Konnte man in Nichtluft fliegen? Konnte man irgendwohin gelangen, wenn man sich in einer Nichtwelt befand? Existierte überhaupt etwas, zu dem man gehen konnte? Vielleicht hätte er warten sollen, vielleicht etwas mehr über die Traumländer lernen, bevor er sich gedankenlos hineinstürzte. Vielleicht. Aber nun war er hier, Conchúbar Jahim, er war alles, was existierte. Er und das Mädchen.
    Er tastete nach ihrem Pulsschlag - nichts, hielt die Wange an ihre Lippen – nichts, und doch war sie nicht tot. In diesem Körper war Leben. Er wusste nicht, woher er das wusste, wusste nicht, warum er sich so sicher war, aber er wusste, dass sie lebte. Wie zum Beweis flatterten ihre Lider und für den Bruchteil eines Augenblicks kehrten die Farben zurück. Ein Käuzchen schrie einmal, eine Katze zischte aufgebracht, eine Glocke schlug, der Wind wehte ein Ahornblatt vor Conchúbars Füße und in der Ferne schimmerte die Silhouette eines Turmes, ein schlanker nebelgrauer Kegel, der sich kaum merklich vom Nichts unterschied, das ihn umgab.
    Das alles dauerte nicht länger als ein Atemzug, riss abrupt ab und verschwand, als wäre es niemals dagewesen. Conchúbar senkte den Kopf, strich dem Kind über die Stirn und bemerkte, dass doch nicht alles verschwunden war. Unter seinen Füßen befand sich eine Straße aus weißem Licht, kaum zu sehen, als würde es durch einen Filter gedämpft, aber eindeutig vorhanden. Die Straße führte pfeilgerade in eine Richtung und brach direkt hinter seinen Füßen ab. Er machte einen Schritt, das Licht trug ihn, war hart und fest unter seinen Fußsohlen zu spüren, als wäre es aus Stein gehauen und führte direkt zu dem Turm, der nicht mehr als eine Schachfigur in der Ferne war, und wie eine Brücke spannte sich ein Regenbogen über die Zinnen an seiner Spitze.
    Dort musste er das Mädchen hinbringen, dort war sein Ziel. Das einzige Ziel, der einzige Weg, der einzige Jahim, der die Aufgabe erfüllen konnte. Jetzt fühlte er sich stark und er wusste, was er seinem Volk erjagen würde.

Nemesis
    Der Wind weht sacht durch die Schluchten

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