Keinmaerchen
Öl hineingegossen. Doch am Ende blieb nichts übrig.
15.30 Uhr. Ich habe den beiden letzten Probanden die Liegen in meinem provisorischen Büro hergerichtet und die medizinischen Geräte angeschlossen. Danach habe ich die Vorräte sortiert und eingeteilt.
Das Mädchen klammert sich an ihrem Cello fest, als würde sie ohne die Stütze nicht mehr sitzen können, und wahrscheinlich ist das auch der Fall. Der Junge hockt in der Ecke des Zimmers und starrt sie unverwandt an. Ich bin mir sicher, dass er sie nicht sehen kann, seine Blicke sind leer, seine Hände zucken unkontrolliert vor seinem Bauch. Würde ich ihm ein Stück Holz und ein Messer geben, er würde selbst in diesem Zustand noch schnitzen. Immer weiter und weiter, bis er zusammenbräche.
Ich muss sie ins Bett legen, ich darf nicht anfangen nachlässig zu werden. Es ist Zeit für die Medikamente. Ich kann sie jetzt nicht mehr absetzen, das würde innerhalb weniger Stunden ihren Tod herbeiführen. Wenn sie in die Tiefschlafphase gelangt sind, werde ich mich ebenfalls etwas hinlegen, ich muss versuchen, bei Kräften zu bleiben, auch wenn an Schlaf nicht zu denken ist. Wie könnte ich je wieder schlafen, nach allem, was ich ihnen angetan habe? Ihnen und 87 anderen.
Erin
Sie hat sie mir gezeigt. Die Räder. Und die Albe, die sie drehen. Ächzend und stöhnend und mit knirschenden Zähnen. Ich wünschte, sie hätte es nicht getan. Ich wünschte, das Weiß würde sich in meinem Kopf einnisten und alles andere auffressen. Ich würde nur noch hören, wie es sich aufbläht, mein Gehirn verschlingt und zufrieden rülpsend einschläft. Und dann nichts mehr. Nichts. Gar nichts. Aber da ist etwas. Immer noch.
Dr. Stein
Wir haben Professor Rubens Anordnungen ausgeführt. Ich selbst habe die verbliebenen Probanden in Gruppen zu je drei Personen eingeteilt. Gruppe A wird weiterhin die bisherige Dosis erhalten, Gruppe B bekommt zusätzlich einen Cocktail aus synthetischem Melatonin und hochkonzentriertem B6. Desweiteren wird ihnen der Schlaf entzogen.
Das ist Wahnsinn. Professor Ruben überschreitet damit eine Grenze, was ich ethisch und menschlich nicht mehr vertreten kann. Aber ich habe es getan. Trotz allem. Ich bin Wissenschaftlerin und ich habe eine Verpflichtung der Menschheit gegenüber, die über dem Wohl einzelner Individuen steht. Ist es nicht so? Wo wären wir heute, wenn die großen Köpfe ihrer Zeit sich nicht über enge Moralvorstellungen und überholte Konventionen hinweggesetzt hätten? Wenn sie nicht neue Wege beschritten hätten, so steinig und schmutzig sie zuweilen auch gewesen sein mögen.
Wir stehen so kurz vor dem Durchbruch und die Ergebnisse werden unser Handeln rechtfertigen. Natürlich ist das richtig. Wenn nur dieses Gefühl nicht in mir nagen würde, das Falsche zu tun. Ich kann mir keine Gewissensbisse leisten. Ich darf nicht gefühlsbedingt handeln. Das wäre das Dümmste, was ich jetzt machen könnte. Und doch …
Nach nur sechs Stunden ist ein Proband der Gruppe B kollabiert. Das war nicht vorherzusehen und ein Einzelner reicht nicht aus, um den Versuch als gescheitert zu erklären. Wir müssen weitermachen. Es ist sowieso zu spät um abzubrechen.
Wie erwartet, hat der Professor meine Einwände als unqualifiziertes Geschwätz abgetan. Ich hätte mir die Konfrontation sparen können. Nun, das wusste ich schon, bevor ich das Gespräch gesucht hatte. Warum also habe ich nicht einfach meinen Mund gehalten, wie ich das bisher getan habe? Genauso wie die anderen es tun. Was will ich damit bezwecken? Es ist unwichtig, was ich will. Ich bin bereits auf abgeschlagenem Posten. Professor Ruben kann Widerspruch nicht ertragen.
Er hat die Leitung der Versuchsreihe an Kimmel übertragen, Sokolow wertet die Daten aus. Ich darf meinen Hintern auf einem Bürostuhl plattdrücken und längst überholte Ergebnisse ordnen. Genauso gut könnte ich Bettpfannen in der Charité leeren. Meine Karriere ist beendet, bevor sie begonnen hat. Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Aber ich würde es wieder tun. Auch wenn wir die Probanden durchnummeriert haben wie Gegenstände, ihnen die Namen und Identitäten genommen haben, es sind Menschen. Menschen, die einem höheren Ziel geopfert werden müssen. Aber um welchen Preis?
Erin
Siehst du, sagt sie. Du hättest sie nicht ansehen dürfen.
Wo kommen sie her?, frage ich. Wer macht sie? Nicht einmal du könntest solche Albe machen. Niemand kann das.
Sie sieht mich an. Ihre Lippen – Ich muss an Erdbeeren denken,
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