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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Hand. Die Kinder, die arbeiten ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Jeder für sich allein. Ich weiß nicht, sagt sie. Ich muss arbeiten. Ich muss die Flügel –
    Sie hat Mühe, die Flügel aus dem Stein zu schälen. Der Alb dreht und windet sich unter den Hammerschlägen. Je mehr von den Flügeln zu sehen ist, desto größer wird die Angst, die ihn umgibt. Und er wird auch größer. Er wächst, sage ich. Siehst du das?
    Ja, sagt sie. Er wird größer als alle vorher. Und vielleicht kann er ihn nicht –
    Hör auf, sage ich. Sag das nicht. Du weißt, dass er ihn holen wird. Er wird ihn holen und du machst einen neuen. Einen besseren, einen größeren.
    Aber warum?, fragt sie. Warum kann ich diesen nicht einfach behalten? Ihre Augen. Ich weiß nicht was das ist, das ich in ihren Augen sehe. Es schimmert und glimmt, als kehrten die Farben zurück.
    Nein, sage ich. Nein, verdammt. Nein! Sie zittert und meine Hände zittern auch. Es tut mir leid. Mach weiter, sage ich. Mach weiter und sei still, ich will nicht mehr reden. Ich brauche ein neues Holzstück. Ein größeres. Ein schwereres. Eins, das ich mit beiden Händen festhalten muss.

Dr. Stein
    Die Festplatten sind gelöscht und die Sicherungskopien vernichtet. Die einzigen Aufzeichnungen, die ich noch in Händen halte, sind meine persönlichen Notizen. Aber selbst in diesen scheinen Einträge – ja, ganze Seiten – zu fehlen. Ich bin mir sicher, die Gespräche aus den Hypnosesitzungen notiert zu haben, doch sie sind unauffindbar.
    Ich hätte es wissen müssen. Prof. Ruben war schon immer sehr gründlich. Gründlichkeit ist die wichtigste Voraussetzung in unserem Metier, pflegte er zu sagen. Damit hat er uneingeschränkt recht behalten und sich gleichzeitig noch nie so weit von den Tatsachen entfernt. Wären wir tatsächlich allen Hinweisen mit gleicher Gründlichkeit nachgegangen, anstatt nur denen, die unsere Thesen bestätigen, dann hätte es zu vielem nicht kommen müssen.
    Nun sitze ich hier und aus fünf Jahren Arbeit ist mir nur dieses Tagebuch geblieben, dessen Inhalt weniger wert ist, als das Papier und die Tinte darauf. Niemand wird mir Glauben schenken. Aber das ist irrelevant, ich werde niemandem mehr davon berichten können.
    Ich frage mich tagtäglich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich hätte das Testgelände mit den anderen verlassen und mich an die Presse wenden können. Die einschlägigen Boulevardmagazine hätten mir die Story sicher aus den Händen gerissen und es hätte sie einen feuchten Dreck geschert, wie schmutzig sie sind. Und dann? Ich wäre eine Witzfigur geworden, eine gescheiterte Medizinerin, die sich mit haltlosen Anschuldigungen ins Rampenlicht drängt, um ihre fünf Minuten Ruhm auszukosten, bevor sie selbst in den Mühlen der Regenbogenpresse zerquetscht wird.
    Prof. Rubens Weste wäre weiß gewesen wie zuvor. Wer würde sich schon gegen ihn stellen? Niemand. Kein einziger meiner Kollegen konnte mir in die Augen sehen, als sie gegangen sind. Kein einziger. Und für ihr Schweigen werden sie reichlich belohnt werden, da bin ich mir sicher. Prof. Ruben mag ein Diktator sein, aber wer brav mit dem Schwanz wedelt und auf Kommando Männchen macht, bekommt eine extra Portion Futter. Das war während des Studiums so und hat sich nicht geändert.
    Der Zustand von Probandin 89 macht mir Sorgen. Ihre Vitalfunktionen schwanken und sinken zeitweise auf lebensbedrohliches Niveau. Aber das ist charakteristisch für die Endphase und nicht der Grund meiner Besorgnis.
    Während einer ungewöhnlich aktiven REM-Phase hat sie angefangen zu summen. Ich hielt es anfangs für Atemgeräusche, doch die Töne folgten einem einfachen, sich wiederholenden Muster. Es handelte sich zweifelsfrei um eine Melodie. Nach einigen Minuten konnte ich über ihrem Körper Schwingungen in der Luft ausmachen. Wahrscheinlich nur eine optische Täuschung, hervorgerufen durch Schlafmangel und mentalen Stress. Aber das Risiko ist einfach zu groß. Unausdenkbar, was geschehen würde, wenn sich ein Alb hier im einzig abgeschlossenen und sicheren Raum materialisierte.
    Das Phänomen ist nur einmal aufgetreten, aber falls es wieder passiert, werde ich sie sedieren müssen. Ich bin nicht sicher, ob das die Symptome zuverlässig unterbindet, aber es ist die einzige Möglichkeit, die mir, in Anbetracht meiner begrenzten Mittel, zur Verfügung steht.
    Die Wachphasen von Proband 42 haben sich heute auf zwei Stunden am Stück gesteigert und er hat etwas gegessen. Aber auch

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