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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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zusammenkneifen, wenn sie mich ansehen. Meine Haut schimmert jetzt schon wie das Licht der Strahler. Ich will nicht. Wenn ich nur wüsste, was ich nicht will. Rotes Haar. Die Albe treiben die Räder an, hat sie gesagt. Aber warum? Ist das wichtig? Ja, es ist wichtig. Wichtig für mich. Wenn ich mich nicht auflösen will, dann muss ich. Irgendetwas.
     
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    Hey, sagt sie. Ihre Stimme klingt weiß. Durchscheinend. Sie hat angefangen sich aufzulösen. Der Bogen malt Kringel in den feinen Staub.
    Hey, sage ich. Du spielst nicht.
    Nein, sagt sie. Ich kann nicht. Sie sieht die Wand an. Ihre Finger bewegen sich über die Saiten.
    Du hast über die Räder gesprochen, sage ich. Beim letzten Mal. Weißt du noch? Die Albe treiben die Räder an, hast du gesagt. Woher weißt du das? Hast du es gesehen?
    Sie summt eine Melodie, setzt den Bogen an, wirft ihn auf den Fußboden, sieht mich an. Ja, sagt sie. Ich habe es gesehen und ich will es nie wieder sehen. Eher gehe ich zurück. Zurück ins Gestern.
    Das meinst du nicht ernst, sage ich. Du kannst nicht zurück. Niemand kann das.
    Oh doch, sagt sie. Du und ich – wir alle können zurück.
    Und dann?, frage ich. Was dann?
    Sie lacht und ich bin froh, dass sie lacht. Fast schimmert ihr Haar ein wenig rötlich. Sie würden uns nicht erkennen, sagt sie. Auf der anderen Seite. Sie würden uns nicht einmal sehen. Sie haben neue Kinder. Bessere. Er hat uns durch bessere ersetzt.
    Das glaube ich nicht. Unmöglich. Das würden sie doch merken, sage ich. Oder nicht? Mein Rachen brennt wie Feuer. Aus meinen Augen dringt Rauch. Was ist das?, frage ich.
    Du hast es verlernt, sagt sie. Du hast verlernt zu weinen. Sie sieht mich an. Mit ihren farblosen Augen. Mir wird kalt. Das macht nichts, sagt sie. Es tut nur kurz weh. Und was nützt es zu weinen?
    Vielleicht würde es das Feuer löschen, sage ich.
    Wozu?, fragt sie. Warum willst du das? Dann bliebe gar nichts mehr. Nicht einmal Schmerz.
    Du bist anders, sage ich. Anders als beim letzten Mal.
    Anders?, fragt sie und schüttelt den Kopf. Ich wünschte, ich wäre anders. Ganz anders und anderswo.
    Ja, sage ich. Ich will die Räder sehen. Zeigst du sie mir? Bring mich nur hin, du musst die Albe nicht ansehen.
    Ich kann nicht, sagt sie.
    Doch, sage ich. Doch du kannst. Du löst dich auf, wenn du hier sitzen bleibst. Ich will nicht zurückkommen und den leeren Stuhl vorfinden.
    Was macht das schon?, fragt sie. Wen interessiert das?
Mich, sage ich. Mich.

Dr. Stein
    Ich habe die Tür des Bunkers verriegelt. Das Einrasten des Schlosses hat kaum ein Geräusch verursacht und fast war ich deswegen enttäuscht. Was hatte ich erwartet? Ein finales Getöse, das mir verdeutlicht, wie endgültig meine Entscheidung ist?
    Die Techniker haben die Ausgänge verschweißt. Es riecht immer noch nach versengtem Lack. Professor Ruben war zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr anwesend. Nachdem der letzte auf dieser Seite gestorben war, ging alles so schnell, ich hatte keine Möglichkeit mehr, Material beiseite zu schaffen.
    Professor Rubens Gesicht war eine steinerne Maske. Das Gesicht eines Wasserspeiers, das seine Seelenlosigkeit nach außen spiegelte. Wie konnte ich diesem Mann jemals vertrauen? Natürlich weil ich wollte. So einfach ist das. Unser Leben besteht aus Entscheidungen und jede davon senkt die Waagschale auf der einen oder anderen Seite, macht uns selbst zu den Menschen, die wir sind. Ich habe so viele falsche Entscheidungen getroffen, so viele Lügen gelebt, so viele richtige Worte hinuntergeschluckt und die falschen ausgesprochen. Ich bin nicht besser als der Professor. Vielleicht bin ich sogar noch schlimmer als er. Ich wusste, dass es falsch war, was wir taten, und tat es trotzdem.
    Die Stille in den Gängen ist erdrückend. Das Gebäude ist ein riesiges Grabmal. Die Toten sehen anklagend auf mich herab. Ihre Fotos sind das einzige, was von den Kindern geblieben ist. Außer meiner Erinnerung. Ich habe sie über dem Schreibtisch an die Wand gepinnt, ich will ihre Gesichter nicht vergessen, sie erinnern mich daran, was ich getan habe.
    Ich weiß nicht, ob sie sich an mich erinnern, auf der anderen Seite, ich bin nicht einmal sicher, ob ihnen überhaupt klar war, was hier vorgegangen ist, wie wir sie benutzt und weggeworfen haben. Ich hoffe, dass sie auf der anderen Seite finden, was ihnen auf dieser verwehrt blieb.
    Sie waren so unglaublich traurig und so voller Angst, dass man ihre Gefühle fast sehen konnte. Und wir haben die Angst geschürt und

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