Keinmaerchen
Feder. Als liefe die Zeit langsamer. Nichts, was es zu verbessern gäbe. Er ist perfekt. Die Spannweite seiner Flügel beträgt bestimmt sechzig Zentimeter. Ich muss den Arm ganz ausstrecken, damit er mir nicht ins Gesicht schlägt. Denn er schlägt pausenlos. Ich kann ihn kaum festhalten. Er ist stark, der stärkste, den ich je gemacht habe. Was würde passieren, wenn ich ihn loslasse?
Es ist still. Nur das hastige Klatschen der Flügel. Sie klammert sich an ihrem Cello fest. Wenn sie noch fester zudrückt, wird sie es zerbrechen. Die schrecklichen Albe sind verschwunden. Wann hat sie aufgehört zu spielen? Ihre Schultern zucken unter dem roten Haar. Rot. Es ist wirklich rot.
Ich packe die Flügel des Albs, drücke sie fest an seinen sehnigen Körper. Fessle ihn mit meinem Gürtel.
Wo sind sie hin?, frage ich. Hat er sie abgeholt? Ihre Haut fühlt sich warm an. Was ist mit deinen Augen?
Sie hebt die Hand und betastet ihre Wange. Betrachtet die Feuchtigkeit an ihren Fingerspitzen. Ich weiß nicht. Aber ich fürchte mich nicht mehr. Sie lacht und immer noch rinnt Flüssigkeit aus ihren Augen. Kannst du dich erinnern, wie es ist, ohne Angst zu sein?
Sicher. Es ist – Nein, ich kann es nicht. Du bist verrückt. Die Angst ist immer da. Sie kann nicht fort sein. Sie ist in dir drin. Sie ist in mir.
Es geht ihr besser, das ist gut. Ich sollte mich freuen. Aber ich bin wütend und weiß nicht warum. Ihr Haar fühlt sich gut an. Es ist weich und voll. Und so lebendig.
Lass das, sagt sie. Du tust mir weh. Aber sie lacht und weint immer noch. Sie weint. Das ist es. Ich hatte es vergessen. Ich hatte es einfach vergessen.
Klack-klack-klack auf den Fliesen. Er krabbelt meinen Ärmel hoch, setzt sich auf meine Schulter. Gib ihn mir, sagt er. Sein Atem streift mein Ohr.
Der Alb beginnt mit den Flügeln zu schlagen und ich drücke sie fest an seinen Körper. Ich will ihn nicht hergeben. Nicht diesen und auch keinen anderen mehr. Es ist meiner.
Er gehört dir nicht, sagt er. Gib ihn mir. Sofort.
Nein, sage ich. Scher dich zum Teufel.
Er lacht. Es klingt metallisch. Schnarrt und knarzt in meinem Ohr. Ich spüre ihn an meinem Hals. In der Hölle sind wir schon, flüstert er. Und tausend Teufel um uns herum. Wo willst du mich also hinschicken?
Ach, hau doch einfach ab. Ich wische ihn von meiner Schulter. Er fällt auf den Rücken, zappelt einen Moment und dreht sich mühsam auf die Füße. Du wirst ihn mir geben, sagt er. Du wirst mich bald bitten, ihn zu nehmen.
Verpiss dich endlich!
Funken sprühen in seinen Augen. Und du, sagt er. Was hast du fertiggebracht?
Sie steht einfach nur da und sieht ihn an. Sieht mich an, das Cello, den Bogen in ihrer Hand. Atmet ein und aus, hebt die Schultern und lässt sie fallen. Dann gibt sie ihm einen Tritt. Einfach so. Und er prallt an die Wand.
Ihr dummen Kinder, sagt er und es klingt bedauernd. Mitleidig. Dann huscht er durch die Tür.
Warum hast du das gemacht?
Das ist nicht richtig, sagt sie. Alles hier ist nicht richtig.
Ich weiß. Aber ich weiß nicht was.
Dr. Stein
Die Versuchsreihe läuft besser als gedacht. Die Probanden sind gut auf das Mittel eingestellt und ihr Allgemeinzustand ist den Umständen entsprechend gut. Das Projekt scheint ein voller Erfolg zu werden. Ich sehe den Nobelpreis in Professor Rubens Augen glänzen, wenn er sich in Rage geredet hat. Und er hätte ihn verdient. Die Erkenntnisse, die wir in den wenigen Monaten gewonnen haben, sind bahnbrechend. Sie werden Geschichte schreiben. Wir alle werden Geschichte schreiben. Wenn da nicht die Zweifel wären.
Der Neuzugang – Nummer 42 – reagiert ungewöhnlich. Er versucht soziale Bindungen aufzubauen und hinterfragt die Situation. Natürlich können wir nicht zweifelsfrei feststellen, was in ihm vorgeht, aber sein Melatoninspiegel schwankt extrem, was nicht an der Medikamentation liegen kann. Die Dosis ist perfekt auf sein Körpergewicht und seinen ursprünglichen Schlaf-Wach-Rhythmus abgestimmt. Ich habe die Daten mehrfach überprüft, es liegt kein Fehler vor. Warum also benimmt er sich nicht aufgabenkonform? Professor Ruben tut meine Einwände ab, wie es zu erwarten war, und tatsächlich kann ich keine Fakten vorbringen, die mein Gefühl bestätigen. Und doch … Ich werde ihn genauer beobachten und ein Langzeit-EEG anordnen. Die täglichen Routineüberprüfungen geben mir in diesem Fall nicht genügend Sicherheit.
2.45 Uhr. Der jüngste unserer Probanden hat den Wechsel auf die andere Seite um
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