Kells Legende: Roman (German Edition)
nächsten Moment hellte sich seine Miene wieder auf. »Du aber, Mädchen, du bist wirklich ein Witzbold! Mit deinen Tricks und deinen lustigen Sprüchen.«
»Ich bin schon ein bisschen zu alt, dass du mich noch so nennen solltest, Großvater.«
»Nein, meine Süße, du bist immer noch mein kleines Mädchen.« Er beugte sich vor und zerzauste ihr das Haar. Sie runzelte verärgert die Stirn.
»Großvater! Ich bin kein Mädchen mehr! Ich bin fast siebzehn!«
»Für mich wirst du immer ein kleines Mädchen sein. Und jetzt iss deine Suppe.«
Sie aßen schweigend; die Stille wurde nur vom Knistern des Feuers gestört, während der zunehmend stärker werdende Wind den Schnee in Schleiern vor sich her trieb und traurig über gefrorene, gepflasterte Straßen heulte. Nienna war schließlich mit dem Essen fertig und wischte den Rest mit einem Stück von dem dunklen Brot aus dem Napf. Dann lehnte sie sich seufzend zurück. »Gut! Ein bisschen zu viel Salz, aber trotzdem gut.«
»Wie ich schon sagte, ich bin der beste Koch in ganz Jalder.«
»Hast du eigentlich jemals einen Affen gesehen? Einen richtigen Affen?« Als sie diese Frage stellte, merkte man ihr zum ersten Mal einen Anflug ihrer Jugend an.
»Ja. Im Dschungel des Südens. Hier oben ist es für Affen zu kalt; ich nehme an, sie wollen nicht auf ihre geliebten Bananen verzichten.«
»Was ist eine Banane?«
»Eine weiche Frucht mit einer gelben Schale.«
»Sehe ich wirklich so aus?«
»Wie ein Früchtchen oder wie ein Affe?«
Sie schlug ihm spielerisch auf den Arm. »Du weißt, was ich meine!«
»Ein bisschen.« Kell leerte seinen Napf und kaute nachdenklich. Seine Zähne taten ihm schon wieder weh. »Es gibt schon gewisse Übereinstimmungen: das haarige Gesicht, die Flöhe, der fette Arsch.«
»Großvater! So redet man nicht mit einer Dame! Das haben wir gerade in der Schule gelernt, man nennt es Eti…, Etti…«
»Etikette.« Er fuhr ihr erneut durchs Haar. »Und wenn du erwachsen geworden bist, Nienna, werde ich dich auch wie eine Erwachsene behandeln.« Sein Lächeln war ansteckend.
Nienna half ihm, das Essgeschirr abzuwaschen und wegzuräumen. Dann stellte sie sich ans Fenster und blickte eine Weile hinaus, auf die fernen Fabriken und den Markt.
»Du hast im Süden in den Dschungeln gekämpft, Großvater, richtig?«
Kells Laune verfinsterte sich schlagartig, und er biss sich auf die Lippen, um eine wütende Erwiderung zu unterdrücken. Das Mädchen weiß es nicht besser, tadelte er sich und holte tief Luft. »Ja. Das ist aber schon lange her. Damals war ich noch ein anderer Mensch.«
»Wie war es denn da? Ich meine, zu kämpfen, in der Armee, mit König Searlan? Es muss ja so … romantisch gewesen sein!«
Kell schnaubte verächtlich. »Romantisch? Mit so einem Quatsch füllt man euch also heutzutage die Köpfe in der Schule. Es hat überhaupt nichts Romantisches, wenn du mit ansehen musst, wie deine Freunde abgeschlachtet werden. Und es ist auch nichts Heroisches daran, zu beobachten, wie die Krähen auf einem Schlachtfeld um die Augen der Gefallenen streiten. Nein.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Kämpfe sind etwas für Narren.«
»Trotzdem«, setzte Nienna hartnäckig nach. »Ich würde gern zur Armee gehen. Meine Freundin Kat sagt, dass sie jetzt sogar Frauen aufnehmen; man kann sich auch als Krankenschwester verpflichten und den Verwundeten auf dem Schlachtfeld helfen. Man bekommt eine sehr gute Ausbildung. Ein befehlshabender Sergeant ist in unsere Schule gekommen und hat versucht, uns zu rekrutieren. Kat hatte schon vor zu unterschreiben, aber ich wollte erst mit dir darüber sprechen.«
Kell durchquerte den Raum so schnell, dass seine Gestalt zu verwischen schien. Nienna war geschockt. Er bewegte sich viel zu rasch für einen großen, alten Mann; es wirkte irgendwie unnatürlich. Er packte mit seinen großen Bärenpranken überraschend sanft ihre Schultern. Dann schüttelte er sie. »Jetzt hör mir mal gut zu, Nienna, du besitzt eine Gabe, ein sehr seltenes Talent, das ich seit sehr langer Zeit nicht mehr bei jemandem gesehen habe. Die Musik liegt dir im Blut, Mädchen, und ich bin mir sicher, dass selbst die Engel grün vor Neid werden, wenn sie dich singen hören.« Er holte tief Luft und sah ihr in die Augen. Sein Blick verriet seine bedingungslose Liebe. »Hör gut zu, Nienna, und versuche zu verstehen, was ein alter Mann dir sagt. Ein unbekannter Wohltäter hat die Kosten für deine Universitätsausbildung bezahlt.
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