Keltenfluch
Den großen Vorhang hatte er bereits spaltbreit geöffnet. Jetzt lag es einzig und allein an ihm, ob er ihn ganz aufziehen und die Wahrheit sehen oder ihn geschlossen lassen wollte.
Nein, letzteres ging nicht mehr. Er war den Weg gegangen. Er war eingetaucht in die andere Welt und musste sich ihren verdammten Problemen stellen.
Tony ging weiter. Einer, der Blei in den Beinen spürte. Der seine Füße kaum noch vom Boden hochbekam. Der über die Bohlen hinwegschlurfte, der sich von einer Kälte und Hitze zugleich eingeklemmt fühlte und plötzlich den eisigen Hauch wahrnahm, der dicht an seinem Gesicht vorbeistreifte. Ein kleiner Schock. Er hatte einen derartigen Hauch nie zuvor gespürt. Wie der letzte Gruß eines Toten.
Tony hätte am liebsten geschrien. Nach Hilfe gerufen. Jemand gebeten, zu ihm zu kommen und ihm zur Seite zu stehen. Das alles war so wichtig, aber es gab keinen Menschen, der ihm zu Hilfe gekommen wäre. Er musste diesen verdammten Weg allein gehen, bis zum bitteren Ende.
Der Gang war kurz. Er war eng. Er war auch am Tag düster. Seine Mutter hatte an den Wänden helle und freundliche Bilder aufgehängt, um die Atmosphäre aufzulockern. Davon war nichts zu sehen. Die Dunkelheit verschluckte alles.
Das Zimmer lag auf der linken Seite. Es war klein wie alle anderen auch. Eine schmale Tür, die niedrige Decke, aber es passte zum übrigen Baustil. Ein Haus, das mehr ein Häuschen war.
Hier oben waren seine Schritte kaum zu hören, weil der dünne Teppich die Geräusche schluckte. Wie ein Schatten geisterte er weiter, immer noch mit dem Gefühl, nicht allein zu sein. Jemand hatte sich hier eingenistet. Etwas Fremdes, Unheimliches, das einfach nicht in diese Welt hineingehörte.
Vor der Tür des mütterlichen Schlafzimmers blieb Tony stehen. Sie war nicht geschlossen. Seine Mutter tat es nie. Die Tür stand auch in der Nacht einen Spalt offen. Gladys Hellman wollte sich nicht wie in einem Sarg liegend vorkommen. Den Eindruck hätte sie bei geschlossener Tür gehabt.
Aufstoßen, hineingehen, das Licht einschalten - es war alles so simpel und alltäglich. Trotzdem zögerte Tony. Er tat es nicht.
Statt dessen stieg ein Gefühl in ihm hoch, das ihm Tränen in die Augen trieb. Er trauerte um seine Mutter. Er wusste, dass etwas in dem vor ihm liegenden Zimmer passiert war. Nur wollte er es noch nicht akzeptieren.
Seine Mutter schlief ruhig. Sie schnarchte kaum. Aber sie atmete wie jeder Schlafende. Und genau diese Atemzüge hörte er nicht. Im Zimmer hinter der Tür war es einfach nur still. Und abermals kam ihm die Stille so gespenstisch und schrecklich vor. Eine Totenstille, die ihn umklammerte wie ein Reif.
Hinter seiner Stirn zuckte es. Er spürte, dass sich die Haut an den Schläfen bewegte, und wischte dann seine Tränen weg. Er wollte nicht weinen. Er hatte verdammt viel durchgemacht und musste sich nun zeigen wie ein Mann.
Tony Hellman sprang über seinen eigenen Schatten, als er die Tür nach innen stieß.
Ein Tor öffnete sich. Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, um dem Zuschauer die offene Bühne zu zeigen, auf der die Dunkelheit ein besonderer Gast war. Sie deckte alles ab. Sie hatte sich ausgebreitet. Sie lag wie ein graues Gespenst im Zimmer.
Normalerweise hätte Tony das Licht eingeschaltet. In diesem Fall traute er sich nicht. Es blieb dunkel, und er verließ sich auf das Licht, das vom Flur her über die Schwelle sickerte und einen helleren Umriss von ihr schuf.
Tony trat in diese Insel ein. Er sah seinen eigenen Schatten. Es war völlig normal. Trotzdem kam es ihm vor, als hätte die Seele seinen Körper verlassen.
Wieder ein kleines Zimmer. Darin stand ein breites Bett. Darin hatte seine Mutter früher auch mit dem Vater gelegen, als dieser noch am Leben gewesen war.
Der Umriss des Betts malte sich vor ihm ab. Seine Mutter schlief mit dem Kopf unter den beiden schmalen Fenstern, kaum größer als Luken. Rechts von ihm stand der Schrank, in dem Gladys Hellman ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. An der linken Seite hing der ovale Spiegel an der Wand. Davor stand ein Hocker mit dunkelrotem Polster.
Früher hatte Gladys stets davor gesessen und ihr Haar gekämmt. Da war es noch dunkelblond gewesen. Im Laufe der Zeit jedoch war es ergraut, denn auch sie konnte dem Alter einfach nicht entweichen.
Tony blinzelte. Er hatte bewusst nicht sofort zum Bett hingeschaut. Seine Augen hatten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen müssen, und er traute sich auch nicht, das Licht
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