Kerstin Gier 2
Appartement hätte direkten Zugang zum Strand gehabt. Unser eigentliches Appartement, das wir fest gebucht hatten, war bei unserer gestrigen Ankunft nur leider schon besetzt gewesen. Der Manager der Anlage konnte das weder erklären noch ändern. »Wollen Sie Ihre Reise stornieren?«, fragte er mit einem maliziösen Lächeln unter seiner fleischigen Nase, während Moritz und Fiona sich kreischend um unseren gigantischen Gepäckhaufen jagten und Nico schrie wie am Spieß. »Oder nehmen Sie ein anderes Appartement?«
Das andere Appartement liegt auf einem Hügel, gefühlte drei Kilometer vom Meer entfernt. Mich konnte es auch nicht beruhigen, dass mein Mann Ralf meinte, die Aussicht von hier oben wäre schöner.
Während Moritz auf dem Klo sitzt, mache ich Nico eine Apfelschorle und schimpfe mit Fiona, die eine Reiswaffel atomisiert, um damit ihren scheußlichen Plüschhund Chi Chi Love, ein rattenähnliches Ding im Ballerina-Kostüm, zu füttern. Ich gucke auf die Uhr. Ralf ist im Ort, um einen Leihwagen zu organisieren. Seit geschlagenen zwei Stunden. Was will er denn mieten? Einen Spähpanzer? Das Papamobil? Die Air Force One? Während ich Moritz’ kleinen Popo abwische und gleichzeitig mit hypnotischer Stimme versuche, Nico davon abzuhalten, das Glas auf der Tischkante abzustellen, erinnere ich mich daran, was ich mir für diesen Urlaub fest vorgenommen habe. Nämlich, mich zu erholen. Und zwar gründlich! Ich atme tief ein und aus. Genau. Der Plan ist einfach: Mama entspannt sich und fängt heute damit an. Und nimmt deswegen ein Buch mit an den Strand. Schluss mit der üblichen Lese-Imitation aus mechanischem Umblättern von Seiten kurz vor dem Einschlafen. Ich lese ein richtiges Buch! Ich habe den neuen John Irving dabei und einen Klassiker der Weltliteratur als unterhaltsame Weiterbildungsmaßnahme. Diesmal Die Brüder Karamasow von Dostojewski. Welches soll ich einpacken? Die sind sicher beide super. Aber als Hardcover vielleicht etwas schwer und unhandlich für den Strand. Da fällt mein Blick auf ein anderes Buch, das auf dem Regal liegt. Mmmhhh. Es gehört nicht mir. Und ist auch nicht so meine Welt. »Mama, Moritz macht meinen Chi Chi Love kaputt!«, heult Fiona und zerrt an ihrem Bruder, der mit seinem Plastik-Tyranno ihr Schoßhündchen zerfleischen will. Aber warum eigentlich nicht? Weiterbilden kann ich mich auch heute Abend noch. Also stecke ich es ein. »So, Kinder, Abmarsch!«, rufe ich.
Eine halbe Stunde später sitzen wir tatsächlich unter einem Sonnenschirm auf einer Strandmatte, deren Sauberhaltung ich nach dreißig Sekunden aufgegeben habe. Zum Glück habe ich meine Kinder schon vorher sorgfältig eingecremt. Natürlich nicht mit einer Sonnencreme mit chemischem Filter, sondern mit Mikropigment-Schutz. Das ist viel gesünder. Blöd ist nur, dass die wasserfeste Creme nicht richtig einzieht, sondern sich wie ein weißer Film auf die ohnehin käsige Haut legt, und meine Kinder jetzt aussehen wie Vampire. Doch nicht lange. Denn der schwarze Sand pappt auf der Creme wie Papierfetzen auf Kleister und verwandelt meine Kinder in Zombies, die gerade dem Grab entsprungen sind. Tja. Das ist eben der Preis dafür, dass sie weder eine Allergie noch Hautkrebs kriegen. Die anderen Mütter werden schon sehen, was sie davon haben, wenn sie normale Sonnencreme benutzen. Ha! Sollen deren Kinder ruhig jetzt gut aussehen, spätestens in dreißig Jahren wird sich herausstellen, dass mein Sonnenschutzkonzept besser war. Genau, Gerda, so ist es richtig. Konzentrier dich auf die positiven Dinge. Zum Beispiel, dass dir der Badeanzug von vor vier Jahren noch passt. Er hat Größe 42. Und das ist ein Erfolg! Denn jeder weiß, dass Größe 42 die letzte Ausfahrt vor der Schnellstraße nach Adipositas ist. Ich strecke meine Beine aus, lasse Sand durch die Zehen rinnen und betrachte das Meer und die Segelboote. Nachdem ich Moritz vor dem Ertrinken bewahrt habe und Nico davor, die Sandburg der Nachbarn aufzuessen, buddeln sie jetzt in ungewohnter Eintracht ein Loch, während Fiona sich mit ihrem iPod verkabelt hat und in ihrer eigenen Welt schwebt. Das ist die Gelegenheit, um endlich etwas für mich zu tun! Ich ziehe das Buch aus der Tasche. Gut, es ist keine anspruchsvolle Literatur. Eigentlich weiß ich noch nicht mal, ob es überhaupt Literatur ist. Wo es doch Das Buch zum Film heißt. Und für Mädchen ab zehn ist. Ähem. Aber solange ich den Einband schön nach unten halte, kriegt ja keiner mit, dass ich ein
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