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Ketchuprote Wolken

Ketchuprote Wolken

Titel: Ketchuprote Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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Holz geritzten Initialen berührte.
    MM + AJ
14 FEB
    Ich suchte mir einen Stein und kniete mich neben die Bank, während du dich auf der anderen Seite der Welt zum letzten Mal hinlegtest, Stu. Eine Turmuhr schlug Mitternacht, als ich damit begann, meine Initialen von der Bank zu entfernen. Ich war nicht wütend oder traurig dabei, sondern ganz ruhig, beinahe sanft. Aber es tat gut, sie verschwinden zu sehen, Stu.
    Für immer in Liebe
ALICE JONES

Eine Bar in Südamerika
    11. Februar
    Vogelmädchen,
    der Papagei mag schuld sein an diesem Brief. Ich glaube zumindest, dass es ein Papagei ist. Da ich keine Ahnung von Vögeln habe, bin ich mir nicht sicher. Wenn du hier wärst, würdest du mit deinem typischen Lachen sagen: »Papagei?! Aber, Aaron, das ist doch ein …«
    Wow.
    Meine ornithologischen Kenntnisse sind so jämmerlich, dass mir nicht einmal ein anderer Vogel mit bunten Flügeln einfällt, den man zum Spaß für die Gäste in einem Käfig hält. Aber nicht für diesen einen Gast. Nein, dieser eine Gast kann nie mehr einen Vogel hinter Gittern sehen, ohne an ein bestimmtes Mädchen mit einer bestimmten Liebe zum Klang der Freiheit zu denken.
    Ich bin in einer Stadt namens Rurrenabaque in Bolivien in einer Bar. Du stellst dir jetzt vielleicht vor, dass ich inmitten von Einheimischen an einem goldenen Sandstrand sitze und an einer Bretterbude Bier trinke, das aus einem handgezimmerten Fässchen gezapft wird. Das muss ich klarstellen: Ich sitze auf einem gewöhnlichen Plastikstuhl an einem gewöhnlichen Plastiktisch, draußen befindet sich eine gewöhnliche Verkehrsstraße, und neben mir versuchen zwei betrunkene Engländer herauszufinden, wer von ihnen besser das Alphabet rülpsen kann. Das sorgt für großes Interesse im Lokal. Mr Kurzgeschoren hat es erst bis zum F geschafft, Mr Kahlkopf dagegen hat die schwindelnden Höhen von N erreicht. N! Mit einem einzigen Rülpser! Kein Wunder, dass alle klatschen.
    Neben diesen beiden komme ich mir vor wie in York. Und so war es auch überall in Ecuador. Sogar in entlegensten Teilen der Anden stieß ich auf Vertrautes. Diese Familie zum Beispiel, bei der ich ein paar Tage wohnen konnte. Als ich ihre Hütte in den Bergen betrat, dachte ich zuerst, diese Leute seien anders. Sie trugen Kleidung, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und sprachen nicht einmal Spanisch, sondern eine mir vollkommen fremde Sprache. Es gab kein Internet, nicht einmal Strom. Man konnte nicht erfahren, was in der Welt vor sich ging, und genau das wollte ich.
    Mein Bett bestand aus ein paar dünnen Matten in der Ecke eines zugigen Zimmers, und als ich meinen Rucksack abstellte und aus dem Fenster schaute, sah ich draußen eine Frau, die mit bloßen Händen ein Huhn schlachtete. Ihren Bewegungen war anzumerken, dass sie das schon unzählige Male gemacht hatte. Sie hielt das Huhn kopfunter und drehte ihm den Hals um, und dabei lachte sie über ihr Baby, das neben ihr am Boden saß und mit einem Stein spielte. Kann natürlich sein, dass Hühner nicht richtig zu den Vögeln zählen, so wie Spinnen nicht zu den Insekten, aber ich denke, du findest das so oder so ziemlich scheußlich. Ich fand es auch grausig, versteh mich nicht falsch, aber ich war froh darüber. Das war etwas so extrem Fremdes, dass ich nur staunen konnte. Meine Heimat schien mir in diesem Moment Millionen von Kilometern entfernt zu sein. Mum. Max. Du. All das war verblasst, und genau dieses Gefühl brauchte ich, weil die Erinnerung zu sehr schmerzte.
    Aber dann zog sich dieser extrem rotbackige kleine Junge am Rock seiner Mutter hoch und stellte sich wacklig auf die Beine. Die Mutter ließ das Huhn fallen, ging in die Hocke und nahm behutsam die Hände des Kleinen. Sie bewegte sich rückwärts und unterstützte den Kleinen so beim Gehen, und dabei strahlte sie, und der Kleine strahlte, und dann kam der Vater heraus und strahlte auch und redete aufgeregt mit seiner Frau. Die Worte verstand ich natürlich nicht, aber ich wusste dennoch, was die beiden sagten.
    Schau nur, er kann laufen! Ist das zu fassen? Hoppla, Vorsicht! So ein kluger kleiner Kerl!
    Der Junge stolperte in die Arme seiner Mutter, und sie hielt ihn umschlungen, und der Mann küsste die beiden auf den Kopf und ging wieder ins Haus, und in mir zog sich alles zusammen, so niedergeschlagen war ich mit einem Mal. Denn diese Szene hier kam mir so vertraut vor. Wir Menschen sind alle gleich. Es gibt kein Entkommen. Es ist vollkommen egal, ob man ein kahlköpfiger Engländer

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