Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
– 1 –
Tiefer Winter
Mit hart in den Wind gestellten Flügeln segelte Schatten, der Fledermausjunge, durch den Wald. Die blattlosen Ulmen, Ahornbäume und Eichen schimmerten im Schein des Mondes, ihre Äste voller spitzer Eiszapfen. Unter ihm lagen umgestürzte Baumstämme wie Skelette riesiger Tiere. Die Luft war vom Stöhnen gefrorenen Holzes erfüllt und in der Ferne hörte Schatten ein mächtiges Krachen, als wieder ein Ast brach und zu Boden stürzte.
Er zitterte. Auch nach stundenlangem Flug war ihm immer noch kalt. Der Wind nagte ihm durch das glatte schwarze Fell an den Knochen. Sehnsüchtig dachte er an die anderen, die im Hibernaculum, ihrem Winterquartier, zurückgeblieben waren und es dort gemütlich hatten.
Trotz eines Überzugs aus glänzendem Reif war ihnen doch warm in ihrem tiefen Schlaf, der sie durch den Winter ins Frühjahr bringen würde. Sie hatten keine Lust gehabt, mit ihm zu kommen. Es schien ihnen zu kalt, zu gefährlich. Diese Reise anzutreten war ihnen einfach nicht wichtig genug.
Lass sie schlafen, dachte Schatten, und kniff wegen eines plötzlichen Windstoßes die Augen zusammen. Sie hatten keinerlei Neugier, kannten keine Abenteuerlust. Er aber würde seinen Vater suchen.
Und es war auch nicht so, als ob er dabei allein wäre. Neben ihm wedelte mehr als ein Dutzend Silberflügel durch den Wald. Er konnte Chinook sehen, der gerade niedrig über einen schweren Fichtenast flog und dabei Schnee abstreifte. Vor ihm war Schattens Mutter Ariel. Sie unterhielt sich leise mit Frieda, der Ersten Ältesten ihrer Kolonie. Noch eine andere Fledermaus flog in der Vorhut mit, ein Männchen namens Ikarus. Er war ihr Führer. Schatten hoffte, er wüsste, wo es hinging. Aber nach allem, was er vor Kurzem durchgemacht hatte, war er froh, zur Abwechslung mal jemand anderen die Führung übernehmen zu lassen. „Kalt?“, hörte er Marina neben sich fragen.
„Mir?“ Schatten schüttelte den Kopf und versuchte das Zähneklappern zu unterdrücken. „Dir etwa?“
Sie rümpfte die hübsche spitze Nase, als ob der Gedanke zum Lachen wäre. „Nein. Aber ich bin ziemlich sicher, dass ich dich habe zittern sehen.“
„Ich doch nicht“, sagte er und erwiderte ihren misstrauischen Blick. „Auf jeden Fall hast du mehr Fell. Schau dir nur diesen Pelz an!“
„Nun, ich bin älter als du“, stellte sie klar.
Schatten knurrte. Als ob sie ihn das je vergessen ließ!
„Und Glanzflügel haben ein besseres Fell“, fügte sie sachlich hinzu. „So ist das nun mal, Schatten.“
„Ein besseres Fell!“, sprudelte es heftig aus seinem Mund. „Ich habe das alles schon oft genug gehört! Dass es dichter ist, bedeutet noch lange nicht, dass es besser ist.“
„Jedenfalls ist es schön warm“, sagte Marina mit einem Grinsen.
Schatten musste zurückgrinsen. Von allen Fledermäusen, die mit ihm zogen, war Marina die einzige, die kein Silberflügel war. Ihr Fell war viel dichter und heller als sein eigenes und im Mondlicht leuchtete es geradezu. Auch ihre Flügel waren schmaler. Und sie besaß elegante muschelförmige Ohren.
Er hatte sie im letzten Herbst getroffen, als er auf seiner ersten Wanderung verloren gegangen war. Sie hatte ihm dabei geholfen, seine Kolonie im Hibernaculum wieder zu finden. Sie war ein unausstehlicher Besserwisser, aber er musste zugeben, sie hatte ihm mehrmals das Leben gerettet.
Ein Klumpen Schnee traf ihn auf dem Rücken. Er blickte sofort nach oben und sah, wie Chinook mit einem triumphierenden Grinsen herabgeglitten kam.
„Oh, tut mir Leid, Schatten, habe ich dich erwischt?“ „Irrsinnig komisch, Chinook. Wirklich.“ Er schüttelte den Schnee ab, bevor er schmelzen konnte.
Als sie Kleinkinder gewesen waren im Baumhort, und das war noch gar nicht so lange her, da hatte Chinook ihn mit so viel Respekt behandelt wie ein verrottetes Blatt. Schließlich war Chinook der viel versprechendste Jäger und Flieger gewesen und Schatten nur der Knirps der Kolonie. Aber nun, nach all den Abenteuern, die Schatten erlebt hatte, war Chinook zu dem Schluss gekommen, dass es sich doch lohnte, mit ihm zu reden.
„Chinook, so behandelt man keinen Helden“, sagte Marina und ihre Augen blitzten spöttisch.
Schatten rümpfte die Nase. Ein Held? Mit Sicherheit fühlte er sich nicht als Held. Vielleicht während der ersten oder zweiten Nacht, als er ins Hibernaculum gekommen war und alle seinen Geschichten lauschten. Aber danach war alles irgendwie wieder wie sonst geworden. Er aß,
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