Bluterde
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1. KAPITEL
Berlin 2009
L ea ließ ihnen Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Sie wusste aus Erfahrung, wie schwer es den Zuhörern fiel, die Realität zu akzeptieren. Gelegentlich wurde sie in ihren Vorträgen sogar als Lügnerin beschimpft. Sie konnte das verstehen. Würde sie nicht selbst mit Gorillas arbeiten, hätte sie vermutlich auch Zweifel. Es war schwer zu begreifen, was im Kongo passierte. Lea wandte sich wieder dem Publikum zu und betrachtete die Gesichter in den ersten Reihen.
»Geschätzte fünftausend bis siebentausend Grauergorillas leben noch in der Demokratischen Republik Kongo. Wenn wir es nicht schaffen, den Verlust ihres Lebensraums und die Wilderei einzudämmen, werden sie in zehn bis fünfzehn Jahren ausgestorben sein.«
Sie machte eine Pause und beobachtete die Reaktion auf ihre Worte. Es funktionierte. Langsam wich der Zweifel aus den Gesichtern und machte der Betroffenheit Platz. Zehn Jahre waren greifbar, dieser Zeitraum ließ niemandem die Wahl, unbeteiligt zu bleiben. Lea war überzeugt, dass den meisten Menschen die Zukunft der Erde herzlich egal war – solange nicht ihr eigenes Leben betroffen war. Gegen diese Ignoranz wollte sie kämpfen. Sie konnte einfach nicht anders. Ihr Großvater hatte ihr die Liebe zur Natur ins Herz gepflanzt. Schon als kleines Mädchen war er mit ihr auf Expedition gegangen – in den Wald und auf die Felder, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Kaum neun Jahre alt, kannte sie alle Bäume, Blumen, Gräser und Pilze, konnte die Fährte eines Rehs von der einer Hirschkuh unterscheiden und wusste, wo Dachse und Füchse ihre Bauten anlegten.
Im hinteren Drittel des Saals hob jemand die Hand.
»Sie haben eine Frage?«
Ein Mann stand auf. Er war auffällig korrekt gekleidet. Männer im Jackett begegneten Lea für gewöhnlich nur, wenn sie Vorträge in Unternehmen hielt. Sonst war ihr Publikum bunt gemischt – Studenten, Senioren, aktive Umweltschützer. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Was wollte der Kerl? Sie wappnete sich für eine verbale Breitseite und spannte unbewusst ihren Körper an.
»Ich würde gerne wissen, was man dagegen unternehmen kann?« Beinahe hätte Lea laut gelacht. Sie wurde langsam paranoid. »Gute Frage.«
Sie löste sich vom Stehpult und machte einen Schritt auf das Publikum zu.
»Das Problem ist vielschichtig. Zum einen muss dafür gesorgt werden, dass die illegale Entnahme von Rohstoffen wie Holz oder Mineralien aus den Nationalparks aufhört, um die Zerstörung der Lebensräume zu verhindern. Klingt einfacher, als es ist, da die schwierige politische Situation und die permanenten Unruhen im Kongo hier eine wesentliche Rolle spielen. Zum anderen müssen Alternativen für die lokale Bevölkerung geschaffen werden – die Menschen müssen überleben können, ohne auf die Ressourcen der Nationalparks zurückzugreifen. Ebenfalls eine große Herausforderung.«
Der Mann beobachtete sie aufmerksam und neigte den Kopf zur Seite.
»Und Sie lieben Herausforderungen, oder?«
Lea fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie straffte ihre schmalen Schultern.
»Es geht hier ausschließlich darum, für diese Probleme sinnvolle Lösungen zu entwickeln.«
Sie sah ihm direkt in die Augen.
»Um das zu schaffen, reichen guter Wille und Geld alleine leider nicht aus. Wir sind davon überzeugt, dass es wichtig ist, eine gute Verbindung zu den Menschen vor Ort zu haben. Wir müssen ihre Sorgen, Nöte und Bedürfnisse, aber auch ihre Kultur kennen, um realistische Maßnahmen zu entwickeln. Und genau darum bemühen wir uns bei der ›Wildlife Protection Society‹.« Sie hielt ihn mit ihrem Blick fest wie ein Löwe seine Beute. Der Fremde nickte.
»Ich stimme Ihnen zu. Probleme in Afrika durch die europäische Brille zu betrachten wäre vermessen.«
Leas Augen brannten, ihre Nackenmuskeln fühlten sich an wie ein gespanntes Gummiband. Der Tag im Büro und der Vortrag waren anstrengend gewesen. Sie klappte ihr Laptop zu, rollte die Kabel sorgfältig zusammen und sortierte ihre Unterlagen zu einem sauberen Stapel. Sie freute sich darauf, endlich nach Hause zu kommen. Duschen, essen, lesen.
»Ihr Vortrag war sehr beeindruckend, Frau Dr. Winter.«
Lea drehte sich um und stand unvermittelt dem Mann im Anzug gegenüber. Jetzt, bei Licht und aus der Nähe fiel ihr auf, dass er einen durchdringenden Blick aus seltsam grünen Augen hatte – neben seiner eleganten Kleidung das Auffälligste an ihm.
»Danke. Freut mich, dass er Ihnen
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