Ketten der Liebe
schnellen Bewegung mit dem Finger über ihren Hals.
»Ist die Strafe nicht ein wenig zu übertrieben für das, was er ... auch immer getan hat?« Der Fremde klang belustigt.
»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie die volle Wahrheit wüssten.« Sie ging nun weiter, die Hände seitlich zu Fäusten geballt, aber sie strebte den Klippen zu. »Also gut. Ich werde ihn jahrelang in einem Verlies an die Kette legen und jeden Tag zu ihm gehen, um ihn in seiner Hilflosigkeit zu verhöhnen.«
»Das klingt schon vernünftiger.«
»Dann erst werde ich ihn enthaupten lassen.«
»Warum?« Der Unbekannte sprach geduldig.
»Jeder Mann, der mich schroff für mein Verhalten verurteilt, hat es verdient, in einem Verlies zu verschmachten ...« Sie verlangsamte ihre Schritte.
Seine Mutter hatte ihn verlassen, und nun hatte er beschlossen, dass Amy ihre Schwester im Stich gelassen hatte.
Nun, das stimmte ja auch, aber das war nicht die ganze Wahrheit. »Ich werde ihn nicht verlassen, weil ich e in flatterhaftes Wesen habe. Ich habe kein flatterhaftes Wesen.« Was für ein fürchterliches Wort!
»Das will ich nicht hoffen.« Der Fremde klang ziemlich ernst, und er musterte sie, als wäre die Angelegenheit für ihn von größtem Interesse.
»Und schließlich lasse ich ihn nicht einfach sitzen, sondern gehe fort, weil er es so will.«
»Eine vernünftige Entscheidung.«
»Genau. Ich treffe die vernünftige Entscheidung zu gehen, denn hier bin ich nicht mehr willkommen.« Sie schritt nun schneller aus und hielt auf das Cottage zu, in dem Jermyn und sie die ersten Tage nach ihrer Hochzeit verbracht hatten.
»Aber nun gehen Sie doch nicht in Richtung Haus, um zu packen«, hob der Fremde hervor.
»Wie bitte?«, fragte sie abwesend.
Sie hatte kein flatterhaftes Wesen! Sie hatte Clarice nur deshalb verlassen, weil sie als jüngere Schwester über die Jahre hinweg immer unzufriedener geworden war. Und eines Tages verspürte sie das Verlangen, der älteren Schwester zu zeigen, dass sie, Amy, erwachsen war und mittlerweile selbst im Leben zurechtkam.
Wieder verlangsamte sie ihre Schritte.
Leise sagte sie: »Jetzt wird mir klar, dass ich hätte versuchen sollen, mit Clarice über unsere Pläne zu sprechen, anstatt wie ein Kind zu schmollen.« Und fortzulaufen.
Amy hatte in Schwierigkeiten gesteckt, als sie Miss Victorine kennenlernte. Man hatte ihr beinahe Gewalt angetan; sie hatte den Tod vor Augen gehabt, Hunger gelitten. Aber das würde sie Clarice natürlich nie erzählen, da sie genau wusste, dass Clarice die Verantwortung für Amys Leiden übernehmen würde - dabei war es ja nicht Clarices Schuld, sondern Amys. Sie hatte sich vorgestellt, sie könne England ganz allein durchqueren, doch in Wirklichkeit war es so gewesen, dass die Schwestern die Härte der Heimatlosigkeit nur deshalb gemeistert hatten, da sie sich in allen Belangen ergänzt hatten. Amy hatte sich arrogant und ungestüm benommen, und dafür hatte sie nun einen hohen Preis gezahlt.
Ihre Schwester war ihr in all den Jahren eine treue Gefährtin gewesen, und auch wenn Amy es sich nicht eingestehen wollte, so vermisste sie Clarice schmerzlich. Inzwischen war ihr bewusst geworden, was sie verloren hatte, und nun wollte sie ihre Schwester Wiedersehen.
Beide Schwestern: Sorcha und Clarice. Selbst den alten Drachen, ihre Großmutter, vermisste sie. Jermyn hatte recht. Sie wollte zurück zu ihrer Familie ... und sie würde es nicht darauf ankommen lassen, neben all den anderen auch noch Jermyn zu verlieren. Das Schicksal ihres Vaters kam ihr wieder in den Sinn, und sie schluckte schwer.
Langsam ließ sie sich auf eine Bank vor dem Cottage sinken. Sie wollte zwar Summerwind Abbey verlassen, aber wie durch einen geheimen Zauber wurden ihr die Glieder schwer. Sie war müde. Offenbar hatte der Streit mit Jermyn sie angestrengt, denn sie fühlte sich matt. Sie wollte allein sein, um endlich wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
Wie selbstverständlich nahm der Fremde neben ihr Platz.
»Ach, lassen Sie mich in Ruhe.« Amy war überrascht, wie gereizt sie klang.
Der Unbekannte blieb. »Amy, wissen Sie, wer ich bin?«
»Sollte ich Sie kennen?« Es war ihr vollkommen gleich, wer er war. Warum sollte sie auch nur einen Moment über ihn nachdenken?
»Ich bin Prinz Rainger.«
Der Mann neben ihr hätte genauso gut in einer fremden, ihr unbekannten Sprache sprechen können. Verwirrt blickte sie ihn an.
Das schwarze Haar hing ihm ungeordnet ins Gesicht -ein
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