Ketten der Liebe
sie unmöglich zu Jermyn gehen. Nun war nicht der Zeitpunkt, ihm alles zu erklären. Der ursprüngliche Plan sah vor, später am Abend einen Streit zu initiieren, aber dies war weitaus besser und viel überzeugender, denn nun war der Streit echt.
Und was taten da schon ein paar Stunden zur Sache? Sie würde mit Jermyn über alles sprechen, sobald das Drama vorüber war. Selbst wenn er nicht bereit war, mit ihr zu sprechen, würde sie dafür sorgen, dass er ihr zuhörte. Sie würde nicht noch einen Menschen in ihrem Leben verlieren, weil sie sich in ihrem falschen Stolz verrannte. Wusste sie doch, wie hoch der Preis dafür war. Denn sie hatte diesen Preis gezahlt.
Mit gesenktem Haupt und gespielter Zerknirschung wandte sie sich ab und schleppte sich zum Haus.
An diesem Abend würde Harrison Edmondson seine Niederlage erleben.
Denn an diesem Abend würde er seinen Neffen umbringen, und alle Gäste würden Zusehen.
Das Kleid war aus rosafarbenem Satin und hatte kurze Puffärmel. Der Ausschnitt war so tief geschnitten, dass Amy schon befürchtete, ihre Vermutung, die sie Kenley gegenüber geäußert hatte, könne sich bewahrheiten. Ihr schwarzes Haar war an der Stirn der Mode entsprechend kurz geschnitten und von dem Kammermädchen mit einer langen rosafarbenen Feder verziert. Die weißen Handschuhe gingen ihr bis über die Ellbogen und wurden mit einer Reihe echter Perlknöpfe zugeknöpft, die Amy für vollkommen übertrieben hielt. Steif und mit durchgedrücktem Rücken saß sie in ihrem Zimmer.
Biggers war doch nicht erschienen, um ihr Festkleid zu begutachten, und allein das zeigte ihr, dass Jermyn seine Hände in Unschuld wusch. Zuvor hatte der Kammerdiener jede Kleinigkeit moniert, aber als es darauf an kam, hatte er Amy und ihr Kammermädchen sitzen lassen, sodass sie sich allein auf den Ball vorbereiten mussten.
Amy schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. Zehn Minuten vor sechs. Die Sonne war noch lange nicht untergegangen und schenkte ihnen noch genug Licht für den dramatischen Auftritt. Jeden Augenblick würden die Zuschauer ihre Plätze beziehen. Das Ticken der alten Uhr schien für jeden Moment ihres Lebens zu stehen, und voller Anspannung wartete Amy auf ihren Auftritt.
»Es ist Zeit, Miss«, sagte das Kammermädchen.
Amy straffte die Schultern, erhob sich und hielt auf die Tür zu. Mit Absicht hatten Jermyn und sie es so eingerichtet, dass Onkel Harrisons Zimmer nur wenige Türen von ihrem Gemach entfernt lag. Denn um genau sechs Uhr sollte sie zu ihm gehen. Amy hatte sich den Weg gemerkt und schritt durch die Korridore, durch die nun nur noch die Dienstmädchen und Kammerdiener huschten, um den Herrschaften die gebügelten Abendkleider und die polierten Stiefel zu bringen. Vor Harrisons Tür blieb sie stehen, atmete tief durch und klopfte laut an das Holz. Dann ließ sie gekonnt die Schultern hängen und sah klein und niedergeschlagen aus.
Von drinnen war die Stimme von Harrisons Kammerdiener zu vernehmen, der offenbar verärgert war, da er beim Ankleiden seines Herrn unterbrochen wurde. »Was ist denn?«, entfuhr es ihm schroff, als er ruckartig die Tür aufriss. Dann weiteten sich seine Augen, als er sah, wer dort vorder Tür stand. »Miss! Mylady! Eure Hoheit!«
Mit leiser, beinahe klagender Stimme flehte Amy: »Bitte, könnte ich mit Mr. Edmondson sprechen? Es ist sehr wichtig.«
»Ja ... natürlich. Ich ... ja, das heißt ... wenn Sie sich einen Augenblick gedulden möchten.« Schon war er zu seinem Herrn geeilt.
Amy beobachtete ihn aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass dieser Mann überhaupt nicht dem Bild eines Kammerdieners entsprach. Er sah eher wie ein Faustkämpfer aus, der sich seinen Lebensunterhalt mit Preisboxen verdiente. Vielleicht erklärte das, warum Mr. Edmondsons Kleidung so auffällig war.
Sie lauschte auf die leise gesprochenen Worte, die weiter hinten im Zimmer gewechselt wurden, und während sie vor der Tür wartete, musste sie plötzlich daran denken, wie sehr sie ihre Schwestern vermisste. Der Tod ihres Vaters kam ihr wieder in den Sinn ... und Jermyn, der so zornig auf sie gewesen war. Als Harrison dann schließlich an der Tür erschien und etwas ungelenk in seinen Gehrock schlüpfte, hatte Amy eine mitleiderregende Miene aufgesetzt und Tränen in den Augen.
»Miss ... Eure Hoheit.« Harrisons Bulldoggengesicht wurde noch durch die edle Kleidung betont, die ihm nicht stand. Falten zeichneten sich auf seiner Stirn ab. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich
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