Ketten der Liebe
gewesen war und im richtigen Augenblick den Absprung gewagt hatte. Dennoch sah der Sturz für alle Anwesenden täuschend echt aus, denn mit einem langen, gellenden Schrei und flatterndem schwarzem Umhang entschwand Jermyn den Blicken der Gäste und fiel über den Rand der Klippen in die Tiefe.
Amy sah, wie Harrison sich mit einem teuflischen Grinsen über die Balustrade beugte und hinabschaute.
Lähmendes Schweigen hatte sich auf die entsetzten Gäste gesenkt. Doch dann schrien alle wie aus einem Munde. Die Frauen kreischten, sämtliche Gäste sprangen auf und liefen durcheinander.
Harrisons Blick huschte zu den Zuschauern. Erschrocken wich er vom Geländer zurück. Hastig lief er in das Herrengemach, traf dort jedoch auf Biggers und einen kräftigen Diener und rannte dann wieder auf den Balkon.
Amy hatte ihre stille Freude an Harrisbns Furcht und lächelte.
»Euer Hoheit, wie können Sie in so einem Moment nur lächeln?« Kenley zitterte am ganzen Leib. Er machte keinen Hehl aus seiner Abscheu. »Ihr Verlobter ist in den Tod gestürzt!«
»Es ist nicht so, wie Sie glauben«, versicherte sie ihm.
Dann war vom Rand der Klippen der Schrei einer Frau zu vernehmen. »Oh, großer Gott«, hörte Amy Miss Kent rufen, »dort unten liegt er!«
»Wer?«, fragte Amy.
Kenley wandte sich ihr besorgt zu. »Sie wissen nicht, wo Sie sind, nicht wahr?« Er sprach zu ihr, als wäre sie ein Kind. »Ihnen ist gar nicht bewusst, was geschehen ist?«
»Dort unten liegt niemand«, entgegnete sie gefasst. Jermyn hatte ihr erklärt, dass er auf einem Felsvorsprung landen und sich dann rasch in einer Ausbuchtung der Klippen verstecken würde. »Überzeugen Sie sich selbst.«
Aber die Rufe der Gäste wurden lauter.
Lord Howland trat an den Rand der Klippen, schaute ängstlich in die Tiefe, schlug dann vor Schreck die Hand vor den Mund und eilte mit blasser Miene davon.
Auch Lady Alfonsine wagte einen Blick in die Tiefe, wandte sich ab und brach, wie es schien, in echte Tränen aus.
Aber Amy ließ sich nicht beunruhigen. »Da mag etwas liegen, aber das wird bestimmt nicht Jermyn sein«, versicherte sie Kenley erneut. Wie komisch, dass die Leute immer das sehen, was sie sehen wollten, dachte sie. Nun trat auch sie an den Abgrund und schaute nach unten.
Auf einem Vorsprung, etwa zehn Meter weiter unten, hob sich schemenhaft etwas Dunkles von dem helleren Untergrund ab. Es sah tatsächlich so aus, als liege dort jemand, aber das konnte unmöglich sein. Allerdings ... allerdings schien es sich bei der dunklen Form um Jermyns schwarzen Umhang zu handeln, der nun im Wind flatterte. Und plötzlich sah Amy, dass unter der Kapuze Jermyns kastanienbraunes Haar hervorlugte ... und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einfing ...
»Jermyn?«, rief sie. Das konnte nur ein Trick sein. Aber das hätte er ihr vorher sagen müssen! »Jermyn, das ist nicht komisch!«
Keine Antwort.
Das Atmen fiel ihr schwer. Ängstlich suchte sie die Klippen nach ihm ab. Viel lauter als zuvor rief sie: »Jermyn, du hast mir versprochen, dass das nicht gefährlich ist!«
Wie von Ferne hörte sie Kenley sagen: »Sie hat vor Kummer den Verstand verloren.«
Jemand umfasste ihre Schultern und versuchte, Amy sanft fortzubringen.
Doch sie riss sich los und beugte sich wieder über den Rand der Klippen. »Jermyn, so sag doch etwas!«
Niemand antwortete.
Kraftlos sank sie im Gras auf die Knie. Sie sah etwas Rotes unter dem schwarzen Umhang aufblitzen. Der scharlachrote Stoff von Jermyns Schal.
Jermyn ... dort unten lag tatsächlich ihr geliebter Jermyn.
Langsam erhob sie sich wieder. Sie konnte es nicht fassen. Das war doch unmöglich. Jermyn hatte versprochen, dass keine Gefahr für ihn bestand. Er sagte, er sei mit jedem Zoll dieser Klippen vertraut. Diesen Sprung habe er schon einmal gemacht, und es sei absolut sicher.
Konnte sie jetzt etwa nur noch um ihn trauern?
Warum war sie nicht zu ihm gegangen, um den Streit aus der Welt zu schaffen? Warum hatte sie die letzte Gelegenheit, noch einmal in seinen Armen zu liegen, nicht genutzt?
Jetzt würde sie ihn nie Wiedersehen. In ihrem ganzen Leben nicht. Weder im strahlenden Sonnenlicht noch im Schein einer Kerze; sie konnte ihn nicht mehr berühren, seinen Duft nicht mehr einatmen, seine Nähe nicht mehr genießen ...
»Möge Gott deine Seele in die ewige Verdammnis stürzen, Harrison Edmondson!« Drohend erhob sie die Faust in Richtung Balkon.
Die Damen in ihrer Nähe hielten vor Schreck die Luft
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