Ketten der Liebe
Denn Jermyns Vater hätte es nie zugelassen, dass jemand anders für sich beanspruchte, die Verantwortung eines Marquess von Northcliff zu übernehmen, ganz gleich, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis dieser Verwalter stand. Onkel Harrison hatte zwar das Familienvermögen schon verwaltet, als Vater noch lebte, aber Jermyn wusste, dass Vater darauf bestanden hatte, sich die vierteljährlichen Abrechnungen von seinem Bruder vorlegen zu lassen. Sein Vater hatte sogar einen Verwalter für das Anwesen eingesetzt, und dieser Mann hatte ihn stets auf dem Laufenden gehalten. Vermutlich hatte Vater seine Gründe für diese Maßnahme gehabt. Vielleicht hatte er Onkel Harrison nicht ganz vertraut.
Vermutlich zu Recht, wenn es stimmte, was Jermyn an diesem Abend gehört hatte. Die Dorfbewohner waren mittellos und so verzweifelt, dass sie bereit waren, Miss Victorine bei der Entführung zu helfen, damit sie ihr eigenes Schicksal unter Kontrolle bekamen. Jetzt stand ihnen Unheil ins Haus - Deportation, der Galgen, das Zuchthaus -, doch sie trugen es alle gemeinsam. Jedenfalls fast alle. Mrs. Kitchen hatte ihr Missfallen klar zum Ausdruck gebracht, aber sie war die einzige verstimmte Person gewesen.
Jermyn hasste es, sich einzugestehen, dass Amy recht hatte. Er war wie eine Warze am edlen Gesäß Englands.
Aber er war eben nicht wie seine Mutter. Jeglichen Einfluss dieser treulosen Frau hatte er aus seinem Geist und seinem Herzen verbannt.
Er war wie sein Vater. Zwar war er vom rechten Pfad abgekommen, aber er würde alles dransetzen, die Zügel wieder in die Hand zu nehmen.
Wie gedachte er also, neu anzufangen?
Als Erstes würde er Onkel Harrison von dessen Aufgabe als Verwalter entbinden und der Sache auf den Grund gehen, was sein Onkel sich dabei gedacht hatte, das Lösegeld nicht zu zahlen.
Nach und nach würde er jeden Besitz aufsuchen, mit den Hausverwaltern, allen Dorfbewohnern und Landarbeitern sprechen und jede Schwierigkeit, die sich durch seine Nachlässigkeit ergeben hatte, aus der Welt schaffen.
Ehe er diesen Keller für immer verließ, würde er Amy verführen ... und er wusste sogar schon, wie er das anstellen musste.
Er sah, wie Amy mit einem Lächeln auf ihn zukam und sich ihrer Kleidung entledigte ...
»Jermyn, mein Lieber.«
Schuldbewusst zuckte er zusammen, als er Miss Victorines Stimme am oberen Treppenabsatz vernahm. Rasch vertrieb er die lebendigen Bilder der Verführung aus seinen Gedanken. Er wollte nicht, dass Miss Victorine ahnte, was sich in seinem Kopf abspielte.
Sie trug das Tablett mit dem Abendessen die Stufen hinunter, der Kater war ihr dicht auf den Fersen.
Schon wollte Jermyn aufspringen und ihr helfen, aber er musste die Täuschung aufrechterhalten und an die gebrochene Kette gefesselt sein. Daher musste er sich damit zufriedengeben, dass er Miss Victorine das Tablett erst abnehmen konnte, wenn sie bei ihm war.
»Mein Lieber, ich habe schlechte Neuigkeiten. Amy fühlt sich heute Abend nicht wohl. Ich fürchte, Sie müssen mit mir vorliebnehmen.« Miss Victorine blinzelte unsicher, als rechne sie damit, dass er einen Wutanfall bekäme.
Er nahm ihr das Tablett ab und ergriff ihre Hände. »Das ist gut. Ich hatte ohnehin vor, einmal unter vier Augen mit Ihnen zu sprechen.«
»Ja, gern!« Miss Victorine strahlte über das ganze Gesicht.
»Wäre es möglich, dass ich Papier und Tinte bekomme?«
Coal schlüpfte unter die Bettstatt, und als er wieder auftauchte, hatte er einen Grashalm zwischen den Zähnen.
»Die Tage werden einem lang, wenn man hier allein sitzt. Morgen würde ich gern ein paar Gedanken zu Papier bringen.« Wie beiläufig beugte Jermyn sich vor und zog den Grashalm aus Coals Maul.
»Aber sicher, mein Lieber«, sagte Miss Victorine. »Ich werde Ihnen gleich Papier und Tinte holen.«
Ebenso beiläufig vergrub Coal seine Krallen in Jermyns Hand.
Den Schmerz unterdrückend, zog Jermyn die Hand fort. Aus den langen Kratzern tropfte Blut.
Coal schien zu grinsen und leckte sich die Pfote, als wolle er den Geschmack von Jermyns Haut los werden.
Dieser verfluchte Kater hatte einiges gemein mit der guten Amy.
13. Kapitel
A n diesem Abend wankte Pom leicht, als er die Schenke verließ. Auf die Rufe »Gute Nacht, Pom!« und »Einen guten Fang!« hob er zum Abschied träge die Hand.
Die anderen aus dem Dorf blieben noch, selbst die Fischer, die für gewöhnlich noch vor Einbruch der Dämmerung hinausfuhren, um die Netze auszuwerfen. Sie sahen keinen Sinn darin, am
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