Ketten der Liebe
nächsten Morgen hinauszurudern. Die meisten dachten, dass sie ohnehin gehängt würden. Daher zogen sie es vor, den vielleicht letzten Abend in der Schankstube zu genießen.
Pom verurteilte die Leute nicht für diese Denkweise. Er verstand, was in ihnen vorging. Aber er war anderer Meinung. Bis zu seinem letzten Atemzug war ihm daran gelegen, weiterhin zu versuchen, das Richtige im Leben zu tun. Allerdings wünschte er, genauer zu wissen, was das sein konnte.
»Kommst du zurecht, bis ich mit der Arbeit hier fertig bin, Pom?«
Etwas ungelenk drehte er sich wieder zur Schenke um. Mertle stand im erleuchteten Eingang und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Da das Licht aus der Schankstube ihre Gestalt umrahmte, konnte Pom Mertles Miene nicht erkennen, aber er ahnte, dass sie besorgt aussah.
»Ich habe schon manches Mal den Weg im Dunkeln nach Hause gefunden, Mertle. Also komme ich auch heute Abend klar.«
»Ich weiß«, antwortete sie leise.
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er sah ihre Silhouette und die Konturen ihrer Taille. »Mir geht’s gut«, meinte er. »Uns passiert schon nichts.«
»Ich weiß«, sagte sie wieder. »Also dann gute Nacht. Bis morgen Früh.«
Er zog die Stirn in Falten. »Das wird heute spät für dich. Schlaf dich morgen aus. Ich werde mir Frühstück machen und dann hinausfahren.«
»Nein, ich mache dir dein Frühstück und lege mich wieder hin.« Ihr Beschluss schien festzustehen.
Und er wusste auch, warum. Jede Frau eines Fischers wusste, dass ihr Mann eines Tages vom Meer verschlungen werden konnte. Ganz gleich, wie spät sie noch zu arbeiten hatte und dann früh aus dem Bett musste, sie wollte mit ihm aufstehen, ihm zum Abschied einen Kuss geben und alles Gute wünschen.
Von diesem Vorsatz konnte er sie nicht abbringen. Für sie war es richtig so, und diesen Wunsch wollte er ihr nicht abschlagen. »Also dann gute Nacht, meine Liebe.«
»Gute Nacht, Pom.« Sie wandte sich wieder der Schankstube zu, aus der die Männer schon nach ihr riefen und nach mehr Ale verlangten. »Schon gut, ihr Herzchen, ich komme ja!« Sie schloss die Tür und ließ Pom in der Dunkelheit und den wabernden Nebelschwaden stehen.
Pom fühlte sich mit einem Mal verloren, ein Gefühl, das er nicht verspürte, wenn er draußen auf dem weiten, endlosen Meer war. Nun gab er dem Ale die Schuld, dass er so trübsinnig war. Für gewöhnlich trank er nicht viel. Einerseits brauchte er zu viele Pints, um die gewünschte Wirkung des Ales zu erzielen. Andererseits musste er immer in aller Herrgottsfrühe aufstehen, um die besten Fanggründe zu finden.
Doch sosehr er die Dorfbewohner, Miss Victorine und Amy auch aufgemuntert hatte, er musste sich der Wahrheit stellen. Sie waren verloren. Alle im Dorf waren verloren. Seine Mertle ... das Herz wurde ihm schwer, wenn er an seine Frau dachte. Die beiden hüteten ein Geheimnis. Im Herbst erwarteten sie ein Kind. Deshalb hatte Mertle ihn auch ermuntert, Miss Amy und Miss Victorine zu helfen.
»Pom«, hatte sie gesagt, »im Winter haben wir kaum noch etwas zu essen und sitzen hier mit leeren Bäuchen, während unser gnädiger Herr die Fische aus unseren Netzen stiehlt und uns um die Arbeit bringt. Wir müssen etwas für dieses Kind tun, und Miss Amys Plan ist gut durchdacht. Ich weiß, dass du ihrem Vorhaben vertraust. Lass uns nicht weiter zaudern. Lass uns wenigstens einmal die Gelegenheit nutzen, unser Leben ein wenig zu verbessern.«
Und Pom hatte zugestimmt, weil er seine Frau liebte und weil er um das Leben des ungeborenen Kindes bangte.
Doch jetzt war der Plan fehlgeschlagen, Pom trank zu viel und wankte nach Hause.
Und daher sah er auch nicht, was ihn unmittelbar darauf erwartete. Ahnungslos bog er um die Ecke der Schenke und landete im nächsten Moment unsanft auf dem Rücken. Das Kinn tat ihm weh, und ein Gewicht drückte auf seine Brust. Ein Mann, den er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, hatte ihn beim Kragen gepackt und presste ihm das Knie auf das Brustbein.
Pom versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, und wappnete sich gegen einen Angriff.
»Sie haben Glück, dass ich Sie nicht töte«, kam es drohend von dem Angreifer.
Pom sah den Sprecher zwar nicht, aber er erkannte den Akzent der englischen Oberschicht. Mochte die Provokation auch noch so groß sein, Lord Northcliff würde er keinen Schlag versetzen.
Der Marquess verhielt sich ruhig und rechnete offenbar mit starker Gegenwehr. Schließlich fragte er nur: »Und?«
»Mylord,
Weitere Kostenlose Bücher