Ketten der Liebe
dass er schläft.«
»Seit kurzem schläft er öfter während des Tages.« Miss Victorine schaute ebenfalls zur Kellertreppe. »Ich will doch nicht hoffen, dass er krank wird.«
»Nein, gewiss nicht.« Wenn er an diesem Tag erschöpft war, so kannte Amy den Grund.
»Sie sehen auch ein wenig angeschlagen aus.« Miss Victorine tätschelte Amys Arm. »Vielleicht sollten Sie sich hinlegen.«
Amy errötete. Dass der alten Dame das aufgefallen war! »Ja, das werde ich tun.«
»Ich hörte Sie gestern Nacht im Korridor. Vermutlich werden Sie heute Nacht ruhiger schlafen.« Miss Victorine hatte ein liebevolles Lächeln aufgesetzt. Sie wirkte so verständnisvoll. Und nun ging sie aus dem Haus und ließ eine verblüffte Amy zurück.
Sie sank auf einen Stuhl. Wusste Miss Victorine etwa ... ?
Darüber wollte sie nicht weiter nachdenken. Es war ihr unerträglich, dass Miss Victorine womöglich schlecht von ihr dachte. Und sie hasste es, dass all die Dinge, für die sie gekämpft hatte, scheinbar in Gefahr geraten waren. Ihr ursprüngliches Vorhaben hatte sich als Fehlschlag erwiesen.
Aber nicht nur das rief Unmut in ihr hervor, denn sie musste an Jermyn denken, der seine Mutter für ein Verhalten hasste, das ihr nicht aus dem Kopf ging. Und dann war da noch dieser böswillige Kater, der Miss Victorine geweckt hatte.
Doch all die tristen Gedanken waren verflogen, sobald Amy an die Vergnügen dachte, die sie in der zurückliegenden Nacht in Jermyns Armen erlebt hatte.
Plötzlich ließ ein lauter Knall die Türen erzittern.
Amy zuckte zusammen. Furcht schnürte ihr die Kehle zu.
Eine Erschütterung. Ein Schuss.
Sie wusste gleich, was es war. Die harten Zeiten auf offener Landstraße hatten ihr beigebracht, einen Pistolenschuss zu erkennen.
Der Knall war ... großer Gott, der Schuss kam aus dem Keller! . .
»Jermyn!« Sie rannte zur Kellertür, riss sie auf und nahm die ersten Stufen, als ihr ein Mann entgegenstürmte — ein fremder Mann ganz in Schwarz.
Im nächsten Augenblick hatte er sie zur Seite gedrängt und unsanft gegen die Mauer gepresst.
Die Prellungen spürte sie kaum, machte indes keine Anstalten, dem Unbekannten nachzulaufen. »Jermyn!« In ihrer Hast wäre sie beinahe noch die Stufen hinuntergestürzt und erreichte atemlos den nur schwach erleuchteten Kellerraum. Aus dem Zimmer über ihr drangen nun Schritte an ihre Ohren. Sie bildete sich ein, Anzeichen eines Kampfes zu hören. Jemand fiel schwer zu Boden.
Es kümmerte sie nicht. Glühende Federn schwebten knisternd durch die Luft. Qualm entstieg den Decken, die Jermyns Konturen verbargen. Bei dem Gestank von Schwefel und schwelender Wolle stockte ihr der Atem. Blankes Entsetzen legte sich wie eine eisige Klaue um ihren Hals und raubte ihr die Luft.
Er war tot. Jermyn war tot.
Als die Decken in Flammen aufgingen, schrie sie »Nein!« Ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust, diesmal nicht aus leidenschaftlicher Erregung, sondern aus einer namenlosen Furcht, die ihr zu beiden Seiten des Halses hochschlug. Mit einem verzweifelten Satz war sie bei der Bettstatt, riss die brennenden Decken herunter und rechnete fest damit, Jermyn blutüberströmt auf der Matratze vorzufinden.
Decken und Kissen schleuderte sie zu Boden, schwarz und brennend ... aber nirgends war Jermyn zu sehen.
In dem heillosen Durcheinander des Augenblicks verstand sie die Welt nicht mehr.
Dennoch war sie geistesgegenwärtig genug, die Flammen auszutreten. Dann stand sie keuchend und am ganzen Leibe zitternd vor der Pritsche und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die leere Matratze.
Jermyn war nicht mehr im Keller.
Aber wo war er ... ? Wie kam es ... ?
Wieder drangen Schritte aus ihrem Zimmer in den Keller. Oben lief jemand über die knarrenden Dielen in die Küche. Kaum war sie an der Schublade der Kommode, um die Pistole herauszuholen, da erschien Jermyn am oberen Treppenabsatz.
Einen Moment lang durchflutete sie eine herrliche, unbeschreibliche Freude. Er lebte. Gott sei es gedankt, er lebte!
Er sah sie und blieb stehen. Schloss die Augen, als wäre er erleichtert.
Dann verdrängte die Wirklichkeit Amys Freude.
Er lebte - und er war frei.
Dieser Mistkerl!
»Geht es dir gut?«, rief er von oben.
Sprachlos und noch ganz unter dem Eindruck des ersten Schrecks, schüttelte sie den Kopf.
Jermyn eilte die Stufen hinunter und schaute auf den Qualm, der immer noch den Decken entstieg. Dann blickte er besorgt auf Amys schwarze Hände und die Rußflecken in ihrem
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