KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
Blumen lagen da, und Rachels Grabstein glänzte im Schein der Vormittagssonne.
Rachel Kelly. Geliebte Frau, Schwester und Tochter.
Sie hatten sie geliebt. Seine ganze Familie hatte sie vergöttert. Seine Brüder hatten ihn immer aufgezogen, wenn er nicht achtgebe, würden sie ihm Rachel ausspannen.
Ihm wurde übel, und er hatte Sodbrennen. Wie war er nur auf die Idee gekommen, er könnte ohne Weiteres an diesen Ort zurückkehren, wo er seiner Frau Lebewohl gesagt hatte? An jenem Tag war seine ganze Familie an seiner Seite gewesen, seine Mutter hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, sein Vater war neben ihm gestanden und hatte ausgesehen, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Er hasste diesen Ort.
Er beugte sich hinunter und legte die Rosen neben den Grabstein. Tränen brannten in seinen Augen. Er biss die Zähne zusammen, um seine Gefühle im Zaum zu halten. Er hatte nicht mehr geweint, seit er mit der Post ihren Ehering bekommen hatte. Die einzige persönliche Habe, die bei dem Absturz gerettet werden konnte. Ein Flugzeugabsturz, der eine kleine Gruppe Katastrophenhelfer auf dem Heimflug von Südamerika das Leben gekostet hatte.
Nein, er würde nicht mehr weinen. Wenn er damit anfing, würde er nicht mehr aufhören können, und am Ende würde der dünne Faden zerreißen, an dem seine geistige Gesundheit noch hing. Es war besser, das alles nicht zu nah an sich heranzulassen. Seine Familie hielt ihn für gefühllos, das wusste er. Niemanden würde er eingestehen, wie tief ihn Rachels Tod tatsächlich getroffen hatte. In Wahrheit brachte er es nicht über sich, die Erinnerung an sie mit irgendjemandem zu teilen.
Mit den Händen in den Hosentaschen starrte er auf das Grab, in dem Rachel ruhte. Am Himmel stieg die Sonne immer höher und schien gnadenlos auf ihn herab. Dennoch fror er.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Wenn ich alles rückgängig machen könnte, würde ich es tun. Wenn ich nur noch eine Chance hätte. Ich würde keinen Tag verstreichen lassen, ohne dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe.«
Die Gewissheit, dass er diese Chance nie mehr erhalten würde, machte ihn völlig fertig. Dass er das Beste, das er in seinem Leben gehabt hatte, vermasselt hatte … Sein Schmerz war nicht in Worte zu fassen.
Er hielt es keine Sekunde länger aus. Steif drehte er sich um und ging zu seinem Pick-up zurück. Die Heimfahrt verlief ruhig. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Straße vor ihm und verdrängte alles andere. Von Gefühllosigkeit verstand er etwas.
Er betrat das Haus, in dem ebenfalls Stille herrschte. Das FedEx-Päckchen lag immer noch auf dem Tischchen, aber er ging achtlos daran vorbei. Jetzt wollte er nichts anderes, als sich duschen und den schalen Alkoholgestank loswerden.
Zwanzig Minuten später saß er am Rand seines Betts und ließ den Kopf hängen, um seinen rebellierenden Magen zu besänftigen. Die Dusche hatte geholfen, ein wenig jedenfalls. Aber die Kopfschmerzen und die rasende Übelkeit war er nicht losgeworden.
Er wäre gern zu seiner Mutter hinübergefahren und hätte sich von ihrer Suppe geholt, aber er wollte ihr nicht unter die Augen treten. Sie hatte es nicht verdient, ihn in diesem Zustand, völlig verkatert, sehen zu müssen. Es würde sie nur aufregen. Sie und Dad machten sich ohnehin schon genug Sorgen.
Er ließ sich auf die Matratze fallen und schloss die Augen. Ruhe. Er wollte einfach nur Ruhe.
Als Ethan das nächste Mal die Augen aufschlug, war es dunkel im Zimmer. Er atmete tief ein und testete den Zustand seines Magens. Dass er nicht gleich das Bedürfnis verspürte, sich zu übergeben, wertete er als Erfolg.
Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass es Nacht geworden war. Irgendwie hatte er es geschafft, den Nachmittag durchzuschlafen. Nicht, dass er sich darüber beklagen wollte. Es bedeutete vielmehr, dass er den 16. Juni nun bald hinter sich haben würde.
Als er sich aus dem Bett wälzte, protestierten seine Muskeln. Er streckte sich und lockerte die Schultern, während er in die Küche ging. Sein Magen knurrte, ebenfalls ein positives Zeichen.
Er machte sich ein Sandwich zurecht, goss sich ein Glas Wasser ein und setzte sich dann im Wohnzimmer auf die Couch, ohne die Lampe einzuschalten, und aß im Dunkeln.
Kurz überlegte er, den vom Vortag noch übrig gebliebenen Schnaps zu trinken, aber dann würde das ganze Drama morgen wieder von vorn anfangen. Und irgendwann würde seine Familie es leid sein, dass er sich so zurückzog, dann
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