Lavendel und Blütenstaub
Prolog:
"Eins, zwei, drei, vier, fünf, ... zwanzig! Versteckt oder nicht, ich komme!" Rasch dreht sich das Mädchen mit den langen, blonden Zöpfen um. Ihre blauen Augen streifen die Bäume und Sträucher am Flussufer. Nichts ist zu sehen. "Und wehe, du hast dich dieses Mal nicht gut versteckt!", ruft es lachend.
Sie sieht sich aufmerksam um und lauscht angestrengt. Von einem Baum mit einem mächtigen Stamm ist ein verräterisches Knacken zu hören, trotz des laut rauschenden Flusses, der in der Nähe vorbeifließt. Hinter dem Baum, neben ein paar kleinen Sträuchern, blitzt ein blonder Haarschopf hervor.
Das Mädchen schleicht sich mit leisen Sohlen an.
"Hab' ich dich!" Lachend schnappt sie nach ihrem kleinen Bruder, der wie so oft hinter der großen Esche versteckt kauert.
"Och nein. Schon wieder." Maulend steht der Junge auf und klopft sich ein paar Blätter von der löchrigen Hose. Sie reicht nur knapp bis zu den Knöchel und bedeckt kaum die nackten, zerschrammten Füße, die braungebrannt von der Sommersonne sind.
"Du musst dich besser verstecken!", schimpft nun Anna ihren kleinen Bruder. "Hunderte Male hab ich dir schon gesagt, dass du dir ein neues Versteck einfallen lassen musst! Es gibt hier noch viel mehr Möglichkeiten, als immer nur hinter den Bäumen zu sitzen. Streng deinen kleinen Kopf an, Brüderchen!" Mit dem Finger tippt sie gegen Justus' Stirn, dann klopft sie ihm aufmunternd auf die Schulter. "Los, versuch es noch einmal! Jetzt aber gut verstecken, in Ordnung?"
Justus nickt eifrig. Dabei fallen seine blonden Haare zerzaust über seine blauen Augen. Er dreht sich um und blickt suchend über das steinige Flussufer.
Trotz der spitzen Steine sind die Geschwister barfuß unterwegs. Sie sind es gewohnt, von Mai bis September ohne Schuhe herumzulaufen, dementsprechend sind ihre Fußsohlen abgehärtet. Es macht ihnen nichts aus, über das harte, spitze Gestein zu laufen. Justus verbringt den Sommer am liebsten draußen in der Natur mit seiner sechs Jahre älteren Schwester. Trotz des Altersunterschiedes und der Reife des Mädchens, liebt Anna ihren kleinen Bruder abgöttisch und verbringt gerne Zeit mit ihm. Wenn es die Schule und anschließende Hausarbeit zulässt, sind sie am liebsten in der Aulandschaft am Fluss und planschen herum oder spielen Verstecken.
"Eins, zwei, drei,..." Sie beginnt erneut zu zählen und legt die Hände vor ihr Gesicht.
Justus dreht sich um und läuft in die entgegengesetzte Richtung, weg von den Bäumen. Dieses Mal würde er ein ganz tolles Versteck finden! Anna würde ihn nicht so schnell entdecken, da ist er sich sicher.
So schnell seine kurzen Beine können, läuft er zum Flussufer, dorthin, wo große, vom Wasser abgeschliffene runde Felsen liegen und den Flusslauf verengen. Er klettert auf einen der Felsen und duckt sich in eine dahinter liegende Senke. Mit den nackten Füßen stemmt er sich gegen den kalten, nassen Stein, um ja nicht von seiner Schwester gesehen zu werden.
"Zwanzig!", ruft Anna von Weitem.
Gedämpft dringt ihre Stimme zu Justus vor. Er kann sie fast nicht hören, so laut rauscht das Wasser nur knapp unter ihm vorbei.
"Versteckt oder nicht, ich komme!"
Justus duckt sich noch tiefer. Eine Hand presst er vor den Mund, um nicht laut loszukichern. Da wird Anna aber Augen machen, wenn sie sieht, wie gut er sich verstecken kann!
Vorsichtig lugt er über den Rand des Felsens und beobachtet Anna, wie sie ihn wie gewohnt bei den Bäumen sucht. Er kichert leise, stolz darauf, einen so guten Einfall zu haben.
Anna dreht sich bei den Bäumen suchend im Kreis. Ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. Jetzt wird es einmal spannend werden, denkt sie und macht sich auf die Suche. Wo könnte sich der Bengel versteckt haben?
Justus beobachtet von seinem Versteck aus seine Schwester. Sie läuft zwischen den Bäumen hin und her, lässt den Blick über das steinige Ufer schweifen und kommt immer näher zu den Felsen. Er kichert und drückt sich noch tiefer an das kalte glatte Gestein.
In diesem Moment verlieren seine nackten Füße ihren Halt; er rutscht mit dem Rücken weg. Er versucht noch sich festzuhalten, doch die kleinen Hände greifen ins Leere. Rücklings fällt Justus in die Tiefe.
Er öffnet seinen Mund, um nach Anna zu rufen, doch das kalte Wasser umschlingt ihn bereits.
Noch ehe er einen Ton herausbringen kann, hat der rauschende Fluss sein kleines Opfer gepackt und mit sich gezogen. Die blauen Augen vor Schreck starr aufgerissen,
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