Kill your friends
Ledersofas an der Rückwand des Raumes Platz genommen haben. Einer der Tontechniker drückt auf »Play«. Rage führt eine zitternde Hand zum Fader und schiebt ihn ganz nach oben.
***
Nach vierzig Minuten wage ich einen vorsichtigen Blick in die Gesichter der Runde: Die meisten blicken einfach völlig ausdruckslos. Ross bemüht sich verzweifelt, nicht zu lachen. Derek sieht aus, als würde er jeden Moment aus seinem Sessel herausschießen, um jemanden umzubringen. Schneiders Gesicht ist nicht so einfach zu lesen, denn er hat es in seinen Händen vergraben.
Die ersten fünf oder sechs Minuten des Songs waren schlichtweg nervig: eine Hi-Hat-Figur und irgendwelche abstrakten, piepsenden Geräusche. Nach etwa fünfzehn Minuten setzte ein Basslauf ein, und Rage begann, die Musik mit seinen Händen zu dirigieren, die Augen geschlossen, völlig verloren in einer durchgeknallten Verzückung ob dieser, seiner Fehlgeburt. Die anderen legen die Beine übereinander und wieder zurück, nippen an ihrem Wein und beten, dass es bald vorüber ist. Aber das ist es nicht. Es geht einfach immer weiter. Wahllose Salven ratternder Drum-Loops, Gesangsfetzen, dissonante Keyboard-Attacken.
Als der Track die Sechzig-Minuten-Marke anpeilt und sich immer noch nichts abzeichnet, was vage einem Hook, einem Refrain oder einer wiedererkennbaren Melodie ähnelt, dämmert uns allen, dass wir gerade der klanglichen Umsetzung galoppierenden Irrsinns lauschen.
Etwas Gutes hat es immerhin: Mir wird schlagartig klar, dass ich unbedingt den Namen von Rages Dealer brauche. Denn das Koks, auf das dieses Stück Scheiße Zugriff hat, ist zweifellos phänomenal.
Am Ende starre ich nur noch auf die roten Digitalziffern des Tape-Zählwerks und beobachte, wie im Minutentakt das Geld und Schneiders Karriere davonticken. Der Zähler zeigt »64:33«, als schließlich das Stück mit einer irrsinnig ruckelnden und eiernden Fanfare – als würde das Crescendo am Ende von »A Day In The Life« von Mongoloiden auf kaputten Computern gespielt – seinen Abschluss findet. Rage streckt die Arme aus, die Hände zitternd, die Zeigefinger gen Himmel weisend, während er seinem kokaininduzierten, halluzinierten Fantasieorchester die letzten Töne abringt.
Ich blicke zu Schneider. Er hat Tränen in den Augen. Er ist am Ende – und er weiß es.
Rage wirbelt in seinem Stuhl herum, strahlt uns ins Gesicht und sagt: »Das war ›Birth‹.«
Scheiße, und ob es das war.
Es wird noch besser, als Rage unsere Annahme korrigiert, wir hätten gerade das gesamte Album in einem Durchlauf gehört. Oh nein. Er teilt uns mit, dass dies eine Single sein wird. Genau genommen die Single, die noch vor Veröffentlichung des Albums erscheinen soll. Er sagt, dass er keinen, wie auch immer gearteten Edit der Nummer erlauben wird und wie sehr es ihn freut, dass wir die ersten Ohrenzeugen der weltweit ersten Drum & Bass-Oper sind. Dann rennt er auf die Toilette. Während Wörter wie »interessant«, »radikal« und »anspruchsvoll« die Runde machen, wird höflich genickt.
Kaum, dass wir im Van sitzen und der Fahrer die Türen zugeschlagen hat, wendet sich Schneider zu Derek und sagt: »Sieh mal …« Das wird für einige Zeit sein letzter Beitrag zur folgenden Unterhaltung bleiben.
»WAS HAST DU GETAN? WAS, VERFLUCHTE SCHEISSE, HAST DU GETAN! DREIEINHALB MONATE IN EINEM DER TEUERSTEN STUDIOS DES LANDES, UND WIR HABEN REIN GAR NICHTS! ICH SAGE DIR JETZT KLIPP UND KLAR, DASS DIESE FIRMA UM NICHTS IN DER WELT AUCH NUR EINEN VERFICKTEN TON VON DEM, WAS WIR HEUTE GEHÖRT HABEN, VERÖFFENTLICHEN WIRD! WIE KONNTEST DU ES BLOSS SO WEIT KOMMEN LASSEN? WIE?«
Schneider versucht zu antworten, aber Derek telefoniert bereits mit Trellick im Büro, weist ihn an, Rages Vertrag rauszusuchen, und bombardiert ihn mit Fragen: Wie viel haben wir bereits in den Künstler investiert? Wie kommen wir möglichst günstig aus dem Vertrag raus? Haben wir die Möglichkeit, einen Prozess anzustreben und Rage dafür, dass er eklatant unkommerzielles Material produziert hat, auf Vertragsbruch zu verklagen? Gibt es eine Unzurechnungsfähigkeits-Klausel?
Janette aus der Presseabteilung beugt sich vor und tätschelt Schneider tröstend das Knie. »Eigentlich fand ich es ganz gut«, sagt sie leise, aber er reagiert nicht. Er starrt einfach aus dem Fenster, während wir über Landstraßen zurück Richtung Autobahn fahren. Dead man staring.
Danny Rent bringt seine Girlband, die Songbirds, zu einem Meeting mit.
Die
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