Kind 44
Finger von ihm lassen.«
Leo wandte sich lächelnd an die Großmutter: »Willst du vielleicht, dass sie einen heiratet, der nur Wasser trinkt?«
»Das wäre besser.«
Der Großvater nickte, dann setzte er hinzu: »Er kann ja trinken, aber warum muss er so hässlich sein?«
Die Großeltern lachten. Die Beamten nicht. Einer von ihnen wandte sich dem Kleinsten zu. »Wie heißt er?«
Die Frage war an Raisa gerichtet. Wieder hatte sie einen Aussetzer. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, es fiel ihr einfach nicht ein. Aus ihrem Gedächtnis kramte sie irgendeinen Namen hervor. »Alexander.«
De Junge schüttelte den Kopf. »Ich heiße Iwan.«
Raisa lachte. »Ich ziehe ihn gern damit auf. Ich nenne immer den einen beim Namen des anderen, das bringt sie fürchterlich auf die Palme. Der junge Mann auf meinem Arm ist Iwan. Und das ist Michail.«
Das war der Name des mittleren Jungen. Jetzt fiel Raisa auch wieder ein, dass der Älteste Alexej hieß. Aber damit ihre Lüge funktionierte, musste sie jetzt so tun, als sei sein Name Alexander.
»Und mein ältester Sohn heißt Alexander.«
Der Junge wollte schon den Mund aufmachen und protestieren, aber sein Großvater sprang ihr bei und streichelte dem Jungen liebevoll den Kopf, der ärgerlich die Hand abschüttelte.
»Lass das, ich bin kein Kleinkind mehr.«
Raisa musste sich Mühe geben, dass man ihr die Erleichterung nicht anmerkte. Die Beamten ließen sie durch, und sie führte ihre falsche Familie aus dem Bahnhof.
Als das Bahnhofsgebäude außer Sichtweite war, verabschiedeten sie sich von ihren Helfern und trennten sich. Leo und Raisa nahmen ein Taxi. Sie hatten Saras Familie bereits bis in alle Einzelheiten in ihre Nachforschungen eingeweiht. Wenn Leo und Raisa es aus irgendeinem Grund nicht schafften und die Morde weitergingen, dann würde die Familie die Sache übernehmen. Sie würden andere in die Suche nach diesem Mann einbeziehen. Wenn eine Gruppe aufflog, würde eine andere an ihre Stelle treten. Man durfte den Kerl einfach nicht am Leben lassen. Leo war durchaus klar, dass es sich um Lynchjustiz handelte. Kein Gericht, keine Beweise, kein Verfahren. Die Hinrichtung würde nur auf Indizien beruhen. Um Gerechtigkeit walten zu lassen, mussten sie genauso handeln wie das System, gegen das sie ankämpften.
Leo und Raisa saßen im Fond des Taxis und schwiegen.
Es gab nichts mehr zu bereden, der Plan war fertig. Leo würde sich Zugang zur Rostelmasch-Fabrik verschaffen und ins Personalbüro eindringen. Wie genau, wusste er noch nicht, er würde improvisieren müssen. Raisa würde derweil im Taxi sitzen bleiben und den Fahrer beschwichtigen, falls der misstrauisch wurde. Sie hatten ihn schon im Voraus sehr großzügig entlohnt, damit er friedlich blieb und machte, was sie wollten.
Denn sobald Leo den Namen und die Adresse des Mörders erfahren hatte, würde er sie noch zu dessen Haus fahren müssen. Wenn der Mörder nicht zu Hause war, weil er sich auf Reisen befand, würden sie versuchen herauszufinden, wann er zurückkehrte. Dann würden sie nach Schachty zurückfahren und bei Saras Familie auf ihn warten.
Das Taxi hielt an. Raisa drückte Leos Hand. Er war nervös. Kaum hörbar flüsterte er: »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin ...«
»Ich weiß.«
Leo stieg aus und schlug die Tür zu. Vor dem Haupttor standen Wachen, einen besonders aufmerksamen Eindruck machten sie allerdings nicht. Nach den Sicherheitsvorkehrungen zu urteilen, war Leo einigermaßen zuversichtlich, dass niemand im MGB bei der Suche nach ihm diese Traktorenfabrik auf der Rechnung hatte.
Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass man die Wachen reduziert hatte, um ihn hineinzulocken, aber das bezweifelte er. Vielleicht waren sie daraufgekommen, dass er nach Rostow wollte, aber wohin genau, hatten sie bestimmt nicht herausgefunden. Leo ging zur Rückseite und fand eine Stelle, an der die Sicht auf den Maschendrahtzaun durch ein querstehendes Ziegelgebäude verdeckt wurde. Er kletterte hinauf, drückte die Krone aus Stacheldraht hoch und ließ sich auf der anderen Seite ab. Er war drin.
An den Fließbändern der Fabrik wurde rund um die Uhr gearbeitet. Es gab die Schichtarbeiter, aber sonst sah man nur wenige Leute. Das Gelände war riesig. Mehrere 1000 Menschen mussten hier beschäftigt sein. Leo schätzte die Belegschaft auf bis zu 10 000, die in der Buchhaltung, der Hausmeisterei, dem Versand und natürlich in der Produktion arbeiteten. Außerdem gab es ja noch eine Tages-
Weitere Kostenlose Bücher