Kind 44
Stoppuhr überprüfen konnte.
Nur einen unter ihren Kollegen betrachtete Raisa als Freund, den Sprach- und Literaturlehrer Iwan Kusmitsch Tschukow. Sie wusste nicht genau, wie alt er war, weil er es ihr nicht sagen wollte, schätzte ihn aber auf etwa vierzig. Ihre Freundschaft hatte sich durch Zufall ergeben. Irgendwann hatte sich Iwan über die Größe der Schulbibliothek ausgelassen – ein Kellerkabuff neben dem Heizungsboiler –, die nur Pamphlete, alte Ausgaben der ›Prawda‹ und genehmigte Texte enthielt, aber kein einziges Buch eines ausländischen Autors.
Als Raisa das gehört hatte, hatte sie ihm zugeraunt, vorsichtiger zu sein. Dieses Raunen war der Beginn einer unerwarteten Freundschaft gewesen, die aus einem strategischen Blickwinkel für sie sogar eher unklug hätte sein können, weil Iwan dazu neigte zu sagen, was er dachte. In den Augen vieler war er schon gebrandmarkt. Einige der anderen Lehrer waren überzeugt, dass er unter den Dielen verbotene Schriften hortete oder, schlimmer noch, selbst ein Buch schrieb, um diese zweifellos subversiven Texte anschließend in den Westen zu schmuggeln. Immerhin hatte er ihr eine illegale Übersetzung von ›Wem die Stunde schlägt‹ geliehen, die sie den ganzen Sommer über nur in Parks lesen konnte und niemals mit heimzunehmen wagte.
Raisa konnte sich den Umgang mit ihm nur leisten, weil ihre eigene Loyalität niemals ernsthaft in Zweifel gezogen wurde. Schließlich war sie die Frau eines Staatssicherheitsbeamten, eine Tatsache, die allgemein bekannt war, sogar bei einigen Schülern. Logischer wäre es gewesen, wenn Iwan unter diesen Umständen Distanz zu ihr gewahrt hätte, aber wahrscheinlich sagte er sich, dass Raisa ihn schon längst denunziert hätte, wenn sie das hätte tun wollen. Bei all seinen nicht opportunen Äußerungen wäre es ihr doch ein Leichtes gewesen, ihrem Mann auf der Bettkante etwas zu flüstern. Und so kam es, dass der einzige Mann, dem Raisa unter ihren Kollegen traute, ausgerechnet der war, dem alle anderen misstrauten. Und die Einzige, der er traute, war ausgerechnet die Frau, der er am wenigsten hätte trauen sollen. Iwan war zwar verheiratet und hatte drei Kinder, aber sie vermutete, dass er insgeheim in sie verliebt war. Es war nichts, worüber sie weiter nachdachte, und um ihrer beider willen hoffte sie, dass er es genauso hielt.
***
Vor dem Haupteingang der Schule, in einem gegenüberliegenden, niedrigen Wohnhaus, stand Leo. Er hatte die Uniform abgelegt und trug Zivil, Sachen, die er sich auf der Arbeit besorgt hatte. In der Lubjanka gab es ganze Schränke voll mit diesem und jenem: Mäntel, Jacken, Hosen in den verschiedensten Größen und von unterschiedlicher Qualität, die alle genau zu diesem Zweck da waren. Leo hatte nie darüber nachgedacht, wo die Sachen herkamen, bis er einmal an der Manschette eines Baumwollhemds einen Blutfleck entdeckt hatte. Es waren die Anziehsachen derer, die in dem Gebäude an der Warsonofjewski-Gasse hingerichtet worden waren. Natürlich waren sie gewaschen worden, aber manche Flecken waren hartnäckig. Jetzt trug Leo einen bis auf die Füße reichenden grauen Wollmantel und eine dicke Fellmütze, die er sich in die Stirn gezogen hatte. Er war überzeugt, dass Raisa ihn in diesem Aufzug nicht wiedererkennen würde, falls sie zufällig in seine Richtung schaute. Leo stampfte mit den Füßen auf, um sich warm zu halten, und sah auf seine Edelstahluhr Marke Poljot Aviator, ein Geburtstagsgeschenk seiner Frau. Nicht mehr lange, dann wäre sie für heute mit dem Unterricht fertig. Leo warf einen flüchtigen Blick auf die Lampe über ihm, nahm sich einen stehen gelassenen Schrubber und tauchte, indem er mit dem Stielende die Birne zerschlug, das Foyer in Dämmerlicht.
Es war nicht das erste Mal, dass seine Frau beobachtet wurde. Drei Jahre zuvor hatte Leo selbst ihre Beschattung veranlasst, und zwar aus Gründen, die nichts mit der Frage zu tun hatten, ob sie ein Sicherheitsrisiko war. Damals waren sie kaum ein Jahr verheiratet gewesen. Raisa hatte sich immer mehr von ihm entfernt und in sich zurückgezogen. Obwohl sie zusammenlebten, lebten sie nebeneinander her und sahen sich, weil sie lange arbeiteten, nur kurz am Morgen und am Abend, wie zwei Fischerboote, die jeden Tag vom selben Hafen aus losfahren. Er glaubte nicht, dass er sich als ihr Mann verändert hatte, und verstand deshalb nicht, warum sie sich als seine Frau verändert hatte.
Wann immer er das Thema ansprach, behauptete sie,
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