Kind 44
die Schule bald verlassen. Da war sie auch schon, stand mit einem Kollegen am Eingang, einem älteren Mann mit kurzgeschorenem grauen Bart und Nickelbrille. Leo registrierte, dass er nicht unattraktiv war. Er sah gebildet, kultiviert und mit seinen lebendigen Augen und der vor Büchern überquellenden Tasche etwas vergeistigt aus.
Das musste Iwan sein, der Sprachlehrer. Raisa hatte von ihm erzählt. Auf den ersten Blick schätzte Leo, dass der Mann mindestens zehn Jahre älter war als er.
Leo hoffte inständig, dass die beiden sich am Tor trennen würden, aber stattdessen liefen sie zusammen los und gingen, in ein zwangloses Gespräch vertieft, nebeneinander her. Leo wartete, bis sie einen Vorsprung hatten. Sie gingen offensichtlich vertraut miteinander um, Raisa lachte über einen Witz, und Iwan schien das zu gefallen. Brachte Leo sie auch zum Lachen? Eigentlich nicht, jedenfalls nicht oft. Es machte ihm nichts aus, dass man über ihn lachte, wenn er etwas Dummes oder Tollpatschiges gemacht hatte. In dieser Hinsicht hatte er schon Humor. Aber Witze erzählen? Nein.
Ganz anders Raisa, sie hatte eine flinke Zunge und war pfiffig. Schon seit sie ihm beim ersten Mal, als sie sich getroffen hatten, weisgemacht hatte, ihr Name sei Lena, hatte Leo keinen Zweifel daran gehabt, dass sie klüger war als er. Da er wusste, welche Risiken ein solch wacher Geist barg, war er nie eifersüchtig darauf gewesen – jedenfalls bis jetzt nicht, wo er sie mit diesem Mann sah.
Leos Füße waren taub vor Kälte, und er war froh, sich bewegen zu können. Im Abstand von etwa 50 Metern lief er hinter seiner Frau her. Im schwachgelben Licht der Straßenlaternen war es nicht schwer, ihr zu folgen, außerdem waren kaum andere Leute auf der Straße.
Das änderte sich, als sie auf die Awtosawodskaja-Straße einbogen, eine Hauptstraße, die auch der Metro-Station ihren Namen gegeben hatte, zu der die beiden zweifellos unterwegs waren. Vor den Lebensmittelgeschäften hatten sich Menschenschlangen gebildet, die die Bürgersteige verstopften. Leo hatte Schwierigkeiten, seine Frau im Auge zu behalten, und ihre unauffällige Kleidung machte die Sache nicht leichter. Es blieb ihm keine Wahl, als die Distanz zwischen sich und den anderen zu verkürzen, und er beschleunigte seine Schritte. Jetzt war er keine zwanzig Meter mehr hinter ihr und die Gefahr, dass sie ihn entdeckte, war groß. Raisa und Iwan betraten die Awtosawodskaja-Station und verschwanden aus seinem Blickfeld. Leo hastete weiter und umkurvte dabei die anderen Fußgänger. In der Masse der Pendler konnte Raisa ihm leicht verloren gehen. Immerhin war es, wie die ›Prawda‹ oft genug stolz betonte, das beste und meistfrequentierte U-Bahnnetz der Welt.
Er erreichte den Eingang und stieg die Steintreppen hinab bis in den tiefergelegenen Zentralbereich, eine opulent ausgestattete Halle, die mit ihren cremefarbenen Marmorsäulen, den Geländern aus poliertem Mahagoni und dem Kuppeldach aus Milchglas wie der Empfangssaal einer Botschaft aussah. Es herrschte ein derartiger Hochbetrieb, dass kein Fleckchen Fußboden zu sehen war. Tausende von Menschen, in lange Jacken und Schals eingemummelt, drängelten sich in den Reihen vor den Fahrkartenschranken. Leo kämpfte sich gegen den Strom ein Stück zurück die Treppe hinauf und ließ von dieser erhöhten Warte aus seinen Blick über die Köpfe der Menge schweifen. Raisa und Iwan hatten die metallene Schranke passiert und warteten auf einen Platz auf der Rolltreppe. Leo warf sich zurück ins Gewühl, schlüpfte durch Lücken und drängelte sich an anderen vorbei. Aber da er immer noch hinter der Menschenmenge feststeckte, musste er notgedrungen zu weniger höflichen Mitteln greifen und Leute mit den Händen beiseite schieben. Keiner wagte heftiger zu protestieren als mit einem verärgerten Blick, man konnte ja nie wissen, wer dieser Mann war.
Als Leo die Schranke erreichte, konnte er gerade noch sehen, wie seine Frau seinem Blick entschwand. Er ging durch die Barriere, stellte sich an und ergatterte den ersten Platz auf der Rolltreppe. Die ganze Schräge der mechanisch angetriebenen Holzstufen hinunter blickte er auf ein Meer von Wintermützen, die unmöglich auseinanderzuhalten waren. Er lehnte sich nach rechts hinaus. Raisa war etwa fünfzehn Stufen unter ihm. Um mit Iwan reden zu können, hatte sie sich umgedreht und den Kopf nach oben gewandt. Leo war in ihrem Blickfeld. Er verbarg sich hinter dem vor ihm stehenden Mann, und weil er keinen
Weitere Kostenlose Bücher