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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Arbeiter selbst. Aber Leo wusste, dass ihm eigentlich nichts passieren konnte. Wie er von Raisa erfahren hatte, war er von einem Arzt untersucht worden, und Generalmajor Kuzmin höchstpersönlich hatte ihn besucht und ihm erlaubt, der Arbeit fernzubleiben. Das bedeutete, dass die Unruhe, die er spürte, von etwas anderem herrühren musste. Und je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, was es war. Er wollte gar nicht zurück zur Arbeit.
    Die letzten drei Tage hatte er nicht einmal die Wohnung verlassen. Vom Rest der Welt abgeschottet hatte er im Bett gelegen, heißes Zuckerwasser mit Zitrone getrunken, Borschtsch gegessen und mit seiner Frau Karten gespielt, die auf seine Krankheit keine Rücksicht nahm und fast jedes Mal gewann. Die meiste Zeit aber hatte er geschlafen, und glücklicherweise hatten ihn nach dem ersten Tag auch keine Albträume mehr geplagt. Stattdessen hatte eine große Dumpfheit Besitz von ihm ergriffen. Leo hatte damit gerechnet, dass das bald vorbeigehen würde, wahrscheinlich war diese Melancholie nur ein Nebeneffekt des Amphetamin-Entzugs. Aber es war schlimmer geworden. Er hatte seinen Vorrat des Medikaments, mehrere Röhrchen schmutzigweißer Kristalle, genommen und in den Ausguss gespült. Keine Festnahmen mehr unter Drogeneinfluss!
    Waren es die Aufputschmittel? Oder die Verhaftungen?
    Je mehr er sich erholte, desto rationaler konnte er die Ereignisse der vergangenen Tage bewerten. Sie hatten einen Fehler gemacht. Anatoli Tarasowitsch Brodsky war ein Fehler gewesen. Er war ein unschuldiger Mann, der in das Räderwerk eines mächtigen, wichtigen, aber deshalb nicht unfehlbaren Staates geraten und darin aufgerieben worden war. Er hatte einfach Pech gehabt.
    Ein einzelner Mensch brachte die Bedeutsamkeit ihres Tuns nicht ins Wanken. Natürlich nicht. Die Prinzipien ihrer Arbeit blieben richtig. Der Schutz der Nation war wichtiger als ein einzelner Mensch, wichtiger noch als tausend Menschen. Wie viel mochten all die Fabriken und Maschinen der Sowjetunion zusammengenommen wiegen? Gemessen an dieser Größenordnung war ein Individuum nichts. Es war wichtig, dass Leo die Dinge im Gesamtzusammenhang betrachtete. Wenn man weitermachen wollte, musste man immer alles im Gesamtzusammenhang betrachten. Eine schlüssige Argumentation, aber Leo glaubte trotzdem nicht daran.
    Vor ihm, in der Mitte des Lubjanka-Platzes und umgeben von einer grasbewachsenen Insel, um die der Verkehr kreiste, stand die Statue von Felix Dscherschinski.
    Die Geschichte dieses Mannes kannte Leo in- und auswendig. Dscherschinski war der erste Leiter der Tscheka gewesen, der Staatssicherheitspolizei, die Lenin nach dem Sturz des zaristischen Regimes gegründet hatte. Dscherschinski war also einer der Urväter des NKWD und ein Vorbild. Die Ausbildungshandbücher waren gespickt mit Zitaten, die ihm zugeschrieben wurden. In seiner vielleicht berühmtesten und oft bemühten Rede hatte er ausgeführt:
    EIN AGENT MUSS SEIN HERZ ZUR GRAUSAMKEIT ERZIEHEN.
    Grausamkeit war eines der Heiligtümer ihres beruflichen Ehrenkodex. Grausamkeit war eine Tugend. Grausamkeit war etwas, wonach zu streben sich lohnte.
    Grausamkeit war der Schlüssel zum perfekten Staat.
    Wenn man die Tschekisten mit den Anhängern irgendeiner religiösen Doktrin vergleichen wollte, dann war die Grausamkeit ihr erstes Gebot.
    Bei Leos Ausbildung war es in erster Linie um Athletik und körperliche Ertüchtigung gegangen. Eine Tatsache, die seiner Karriere bislang eher dienlich als hinderlich gewesen war, verlieh sie ihm doch den Anschein eines Mannes, dem man trauen konnte, und zwar im selben Maße, wie man zum Beispiel einem Gelehrten misstraute. Aber es hatte auch bedeutet, dass er sich mindestens einen Abend pro Woche hinsetzen und sich Wort für Wort sämtliche Zitate aufschreiben musste, die ein Agent auswendig kennen sollte. Leo war weder ein Bücherwurm noch mit einem besonders ausgeprägten Gedächtnis gesegnet, und der Drogenkonsum hatte die Sache nicht besser gemacht. Dabei war die Fähigkeit, sich an politische Reden zu erinnern, unverzichtbar. Mit jeder Erinnerungslücke bewies man mangelnden Diensteifer. Und als Leo sich jetzt nach drei Tagen Abwesenheit dem Eingang der Lubjanka näherte und einen letzten Blick zurück auf das Standbild Dscherschinskis warf, wurde ihm klar, dass seine Erinnerung ziemlich lückenhaft war. Der eine oder andere Satzfetzen fiel ihm zwar wieder ein, aber er kannte nicht mehr alle und brachte sie auch nicht in die

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