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Kinder der Retorte

Kinder der Retorte

Titel: Kinder der Retorte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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beten sollen. Doch es entsetzt mich, daran zu denken, daß ich mich irre. Ich habe Angst, Lilith. Eine Anti-Gleichheits-Erklärung aus dem Munde Krugs würde unserem Glauben jede Grundlage entziehen, uns in tiefste Finsternis stoßen. Jetzt weißt du, was mich die ganze Zeit bewegt hat.«
    »Mußt du dich nur auf das verlassen, was Spaulding gesagt hat? Kannst du nicht rückfragen bei Senator Fearon oder dem Sprecher? Finde heraus, was wirklich gesagt wurde.«
    »Sie nach vertraulichen Einzelheiten von Krugs Tischgesprächen fragen? Du bist wohl nicht bei Trost? Sie würden es umgehend Krug berichten.«
    »Aber was willst du dann tun?«
    »Krug nötigen, ihn indirekt in unserem Sinne beeinflussen«, erwiderte Watchman. »Ich wünsche, daß du Manuel mitnimmst in die Kapelle.«
    »Wann?«
    »Sobald du kannst. Verheimliche nichts vor ihm. Zeig ihm alles. Bearbeite sein Gewissen, dann schicke ihn zu seinem Vater, bevor Krug vor dem Kongreß eine Erklärung abgeben kann. Wenn Krug überhaupt beabsichtigt, eine Erklärung abzugeben.«
    »Ich werde es tun«, sagte Lilith. »Ja, es wird bestimmt das beste sein.«
    Watchman nickte. Er starrte auf den Boden. In seinem Gehirn tickte es schmerzhaft, und in seinem Hals spürte er einen wolligen Knäuel. Er haßte die Intrigen, in die er sich jetzt selbst verwickelte, diese Komplotte und Gegenkomplotte, diese Spekulation auf Manuel Krugs schwachen Willen, diese Annahme, daß Krug… Krug!… durch so einfache Machenschaften manipuliert werden könnte. All dies schien ihm wie eine Verleugnung allen Glaubens. Es war eine zynische Art, mit dem Schicksal zu hadern, und Watchman fragte sich, wie ernsthaft sein Glaube je gewesen war. War es alles Fassade gewesen, das Knien in der Kapelle, das Murmeln der Sprüche, die Versenkung in Krug, die Hingabe, die Gebete – alles nur ein Mittel, sich zu betäuben, die Zeit auszufüllen, bis der Augenblick der Wahrheit kam, die Kontrolle über die Ereignisse zu übernehmen? Watchman verwarf den Gedanken. Doch das ließ ihn mit leeren Händen dastehen. Erwünschte, er hätte dies nie begonnen. Er sehnte sich zurück nach dem Turm, angeschlossen an den Computer, freudig auf der Datenflut reitend. Ist es das, was es heißt, menschlich zu sein? Diese Entscheidungen, die Zweifel, diese Ängste? Warum dann nicht Android bleiben, den göttlichen Plan akzeptieren, dienen und nicht mehr verlangen, sich zurückziehen aus diesen Verschwörungen, diesen widerstreitenden Gefühlen, diesen Stürmen der Leidenschaft? Er beneidete die Gammas, die nichts wollten. Doch er konnte kein Gamma sein. Krug hatte ihm diesen Verstand gegeben. Krug hatte ihn dazu geschaffen, zu zweifeln und zu leiden. Gesegnet sei der Wille Krugs! Watchman erhob sich, ging langsam durch den Raum und schaltete, um sich selbst zu entfliehen, das Holovisionsgerät ein. Das Bild von Krugs Turm leuchtete auf dem Schirm: riesig, glänzend, schön, blitzend im Januarlicht. Eine Schwenkkamera glitt langsam die gesamte Höhe des Turmes hinauf, während der Kommentator über die Erreichung der 1000-Meter-Höhe sprach und den Turm mit den Pyramiden verglich, der großen Mauer Chinas, dem Leuchtturm von Alexandria, dem Koloß von Rhodos. Eine großartige Leistung, die den Weg zur Kommunikation mit anderen Rassen auf fernen Sternen öffnete. Ein Werk von eigener Schönheit, schimmernd und schlank. Die Kamera glitt hinauf und hinunter über die Glasmauern. Das Auge schaute von der Spitze hinunter in den Schacht. Grinsende Gammas winkten zurück. Watchman sah sich selbst, in Probleme vertieft, nicht bemerkend, daß er holovisiert wurde. Und da war Krug, glühend vor Stolz, die Einzelheiten des Turms einer Schar von Senatoren und Industriellen erklärend. Der Schirm schien die Kälte der Tundra auszustrahlen. Die Kamera glitt über die im Permafrost eingebetteten Gefrierstreifen, von denen Nebel aufstieg. Wenn der Boden nicht ständig gefroren gehalten wird, erklärte der Kommentator, ist die Stabilität des Turms nicht gewährleistet. Eine beispiellose Leistung der Umweltbeherrschung. Wunderbar. Ein Denkmal für die Phantasie und die Tatkraft des Menschen. Ja. Ja. Phänomenal. Mit einer impulsiven, heftigen Bewegung schaltete Watchman das Gerät ab. Die schimmernde Silhouette des Turms verblaßte, wurde weggewischt wie ein Traum. Er stand an der Wand, kehrte Lilith den Rücken, versuchte zu begreifen, wie es kam, daß das Leben plötzlich so kompliziert für ihn geworden war. Er hatte menschlich werden

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