Der Flirt
La Vie Bohème
Die Anzeige erschien in der zweiten Septemberwoche in der Stage. Das Edinburgh Festival war offiziell vorbei, und das richtige Leben drängte sich wieder unwirsch in das kollektive Bewusstsein der arbeitslosen Schauspieler, die die London Area bevölkerten.
Sie lautete:
Einmalige Gelegenheit für attraktiven, moralisch flexiblen jungen Mann mit guten Manieren. Unregelmäßige Arbeitszeiten. Großzügiges Salär. Diskretion unabdingbar.
Bitte schicken Sie ein Foto und einen kurzen Liebes-Lebenslauf an:
Valentine Charles
III Half Moon Street
Mayfair, London
Mit einem Kugelschreiber bewaffnet, den er der Kellnerin abgeschwatzt hatte, einer Tasse starken Tees mit viel Milch und Zucker und seinem Handy, dessen Gesprächsguthaben merklich geschrumpft war, saß Hughie Armstrong Venables-Smythe in Jack’s Café wie gewöhnlich an einem Tisch nahe am Fenster. Draußen herrschte strahlender Sonnenschein, doch in der Luft lag eine schneidend frische Herbstbrise. Ältere Leute, die ramponierte Einkaufsroller im Schottenkaro hinter sich herzogen, blieben vor dem Schnäppchenladen
auf der Kilburn High Road stehen, um sich über die Vorzüge des Bleichmittels zu informieren, das dort in rosa Plastikkörben zum halben Preis angeboten wurde. Andere feilschten erhitzt mit dem rotgesichtigen irischen Metzger, dessen Frühstücksspeck verdächtig billig war.
Hier war Hughie unter seinesgleichen, hier lebte er an der Frontlinie einer Von-der-Hand-in-den-Mund-Existenz eines Gelegenheitsschauspielers in London NW6, das trotz des jüngsten Anstiegs der Immobilienpreise in den Augen seiner Mutter immer noch eine ziemlich miese Gegend war.
Er entdeckte die Anzeige, markierte sie und lehnte sich zufrieden zurück. In seiner Branche galt es schon als Tagewerk, die Stage zu kaufen und Anzeigen einzukringeln. Zur Feier des Tages zündete er sich eine neue Zigarette an.
Er hatte gerade erst angefangen zu rauchen: Marlboro Lights. Eine widerliche Angewohnheit, die er von seiner Freundin Leticia übernommen hatte. Sie strotzte nur so vor den wunderbarsten, widerlichsten Angewohnheiten, die der Menschheit bekannt waren, und das Rauchen war bei weitem noch die gesellschaftlich akzeptabelste. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren gab ihm das ein Gefühl von Weltläufigkeit. Andererseits konnte Hughie jede Hilfe brauchen, schließlich war Leticia einige Jahre älter als er und um einiges weltläufiger, als er je sein würde. Obwohl sie erst seit zwei Wochen, in Gedanken nannte er es »miteinander ausgehen«, aber ging man wirklich miteinander aus, wenn man im Grunde nirgendwo hinging oder irgendetwas miteinander tat, außer sich mehrmals die Woche an seltsamen, finsteren Orten zu treffen, um sich wildem, wortlosem, schrägem Sex hinzugeben? Wahrscheinlich nicht. Die korrekte Bezeichnung wäre wohl eher »sich treffen«, obwohl sie sich also erst seit ungefähr zwei Wochen »trafen«, war Hughie schon schrecklich verliebt.
Ah, Leticia!
Was hätte man an ihr nicht lieben können?
Alles an ihr war perfekt − von ihrem glänzenden schwarzen Bubikopf, ihren braunen Rehaugen und ihren weichen, rosafarben Amorbogen-Lippen bis hin zu der Art und Weise, wie sie in der Gasse hinter ihrem Laden für maßgeschneiderte Damenunterwäsche in Belgravia »Schlag fester, du geiler kleiner Scheißkerl!« schrie.
Er schloss die Augen und dankte dem Herrn im Himmel stumm − wie er das im Augenblick mehrfach am Tag tat − für den besonders glücklichen Zufall, der ihn gezwungen hatte, sich in dem überfüllten Bus Nummer 12 neben sie zu setzen. Von dem Augenblick an, da er, als sie am Marble Arch vorbeifuhren, gespürt hatte, wie ihre Hand an der Innenseite seines Oberschenkels hinaufkroch, bis sie beide am Piccadilly Circus hastig ausgestiegen waren, hatte er gewusst, dass der Lauf seines Lebens für immer eine andere Bahn eingeschlagen hatte. Bis dahin war Gott für ihn kaum mehr gewesen als eine vage Vorstellung, doch an diesem Tag war Hughie zu dem Schluss gekommen, keine andere Kraft im Universum könne all seine Gebete so vollkommen erhört haben.
Er zog an seiner Zigarette und runzelte die Stirn.
Leticia war eine richtige Frau, keine anspruchslose Studentin. Sie war herrlich pervers und weithin beliebt, unbarmherzig und schnell gelangweilt. Wie wollte er sie halten? Liebe allein genügte da nicht. Um sie an sich zu binden, waren unzählige Köstlichkeiten und Vergnügungen erforderlich.
Kein Geld zu haben war weder köstlich noch
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