Kinder des Monsuns
Treppe hinunter. In einer abgelegenen Ecke befindet sich der Hort der Waisenkinder. Tun sitzt mit überkreuzten Beinen an der Wand und liest den kleinen AIDS-Kranken eine Geschichte vor. Wir setzen uns neben sie, sie grüßt uns mit den Augen und fährt zu lesen fort, bis sie die Geschichte beendet hat. Ich hole das Foto von dem Tag hervor, an dem ich Vothy zum letzten Mal sah, und zeige es ihr.
|40| »Glatzköpfchen«, seufzt sie. Wortlos betrachtet sie einige Augenblicke eindringlich das Foto, wirft den Kopf zurück, ihre Augen werden feucht, unter den zugekniffenen Lidern entweicht eine Träne und kullert ihre Wange hinunter. »Sie ist gestorben«, sagt sie und bricht in ein untröstliches Schluchzen aus.
*
Nein, die antiretroviralen Medikamente, die den AIDS-Kranken der bevorzugten Klasse auf dieser Titanic, wie es Dr. Richner formuliert hätte, das Leben retteten, waren bei den Passagieren der dritten Klasse in Kambodscha noch nicht angekommen. Weder die multinationalen Pharmakonzerne noch die Landesregierung, deren Premierminister von Panzern geschützt in der größten Residenz ganz Südostasiens lebt, hatten irgendetwas unternommen, um die Patienten des Russenhospitals zu retten. Die Medikamente für Vothy konnten warten.
Tun hatte Glatzköpfchen über mehrere Monate hinweg zum Krankenhaus von Dr. Richner gebracht und sich mit ihr jedes Mal um sechs Uhr morgens in die Schlange eingereiht, um die Vitamine zu bekommen, die das Immunsystem wachhalten. Alles ging gut, bis Tun mehrere Wochen zu ihrer Familie aufs Land fahren musste. In ihrer Abwesenheit kümmerte sich niemand darum, Vothy zu dem Schweizer Arzt zu bringen. Als das Mädchen seine Medizin nicht mehr bekam, wurde es immer schwächer, während es weiter seine Mutter pflegte, ohne auf sich zu achten. Als Tun ins Hospital zurückkehrte, war es bereits zu spät. Vothy hatte Tuberkulose und lag sterbenskrank neben Sokgan im Bett. Auf ihrem winzigen Körper hatten sich schwärende Wunden ausgebreitet, und ihr Erscheinungsbild hatte sich so verschlechtert, dass sie nach und nach immer mehr ihrer Mutter glich. Tun rannte über den Korridor, schrie die Krankenschwestern an und beschimpfte den einzigen Arzt im Bereitschaftsdienst.
»Ihr konntet sie nicht hinbringen, oder? Ihr musstet sie so sterben |41| lassen. Euch interessiert es nicht, was mit diesen Menschen passiert…«
Ich konnte kaum glauben, dass Vothy noch vor ihrer Mutter gestorben war. Ich hatte sie beide selbst zusammen gesehen, das Mädchen voller Leben und Fröhlichkeit, seine Mutter körperlich ausgezehrt und gefangen zwischen der Sehnsucht, ihrer Agonie ein Ende zu machen, und dem verständlichen Wunsch, ihre Tochter zu überleben, um sie nicht verwaist zurückzulassen. Der Vater, Kong Thai, hatte aufgehört, Mangos zum Abendbrot zu bringen und sich ins Bett zu legen, um mit dem, was von seiner Frau übrig geblieben war, Liebe zu machen. Alle Welt hielt ihn für tot, niemand fragte je wieder nach ihm. Sokgan empfand nichts Gutes mehr für ihren Rikschafahrer, doch dass er nicht mehr ins Krankenhaus kam, machte Vothy, wie sie wusste, noch ein bisschen einsamer und es ihr selbst schwerer, ihrem Wunsch, zu sterben, nachzugeben. Vielleicht nahm sie deshalb ihre letzte Kraft zusammen und hielt eine Woche länger durch.
Das Strahlen in Vothys Augen verlöschte, und in ihren letzten Augenblicken wusste sie mit noch größerer Sicherheit, dass die Patienten, die das Russenhospital verließen, an keinen anderen Ort mehr gehen. Ihre Brust verwandelte sich in einen großen schwarzen Fleck, sie sah sich erschrocken um und erblickte nur ihre Mutter. Auf dem Bett, auf dem sie in den letzten Monaten gelebt hatten, lagen sich Vothy und Sokgan in den Armen, sahen wechselseitig ihre Agonie mit an und harrten ihres Endes, ohne noch die Kraft zu besitzen, sich irgendetwas zu sagen. Genau wie die Nation Kambodscha hatten sie nie über ihr Schicksal bestimmen können. Oder vielleicht doch, in diesem letzten Augenblick, als es Sokgan schaffte, sich noch etwas länger an das Leben zu klammern als ihre Tochter und die Reihenfolge ihres Abschieds in derselben Weise umzukehren, wie der Monsun den Lauf des »Flusses der traurigen Erinnerungen« in die umgekehrte Richtung lenkt.
43
70
43
70
false
|42|
|43| Kapitel 2
Chuan der Unbesiegbare
|45| I ch sage Masa, dass sie nicht so dicht auffahren soll, dass sie viel zu schnell fährt, und dass sie uns eines Tages noch ins Grab bringen wird.
»Mach dir keine
Weitere Kostenlose Bücher