Kinder des Monsuns
oder nicht doch lieber auf die Bremse treten sollte. Wir diskutieren, ob sie auf ihr Schicksal vertrauen soll oder nicht, wenn wir uns mit Höchstgeschwindigkeit einer Kreuzung nähern. Masa erträgt all meine Unverschämtheiten, lächelt, blickt verstohlen zu Opasi, ihrem Schutzmönch, und raunt ihm zu: »Verzeih diesem
farang
|50| [Ausländer], er ist kein schlechter Kerl, aber es gibt Dinge, die er nicht verstehen kann.«
Wir kommen um ein Uhr mittags im Boxstall Sangmorakot an. In den letzten Jahren haben wir hier schon ein paarmal vorbeigeschaut. Das Camp ist nicht mehr als eine verwaiste Ecke unter freiem Himmel im Hof des Sitaram-Tempels in Bangkok. Thitiphong Amanum, »der Boss«, mietete das Gelände von den Mönchen, als er sich entschloss, seinen Posten als Polizist aufzugeben und sich mit Haut und Haar dem Training armer Jungen zu widmen, um sie zu dem zu machen, was er selbst nie sein konnte: Champion im Thaiboxen.
Sangmorakot ist ein besonderer Ort, eine seltsame Mischung aus dem Frieden des Tempels und der Gewalt der Kämpfe, aus Meditation und Aktion, aus dem Schweiß der Boxer und der Sauberkeit der Mönche mit ihren kahlgeschorenen Köpfen und ihren orangefarbenen Tuniken. Ab und zu setzen sich die Mönche um den Ring, verfolgen aufmerksam das Training und diskutieren, welcher Kämpfer sich die größten Hoffnungen auf den nächsten Kampf machen kann. Das Mönchsleben kann sehr eintönig sein, und manchmal wetten sie auch ein kleines Sümmchen auf die Samstagskämpfe, natürlich nichts, was die Habsucht wecken könnte, nur ein kleiner Zeitvertreib.
Muay Thai ist der thailändische Nationalsport. Er entstand in der alten siamesischen Armee als Training und Vorbereitung der Soldaten, um ihre Körper in Waffen zu verwandeln, zu einer Zeit, als man Kriege noch auf dem Schlachtfeld gewinnen musste und dem Feind Aug in Aug gegenüberstand, wo es nicht reichte, Präzisionsraketen aus einem Silo in großer Entfernung oder aus einem hoch über den Wolken verborgenen Flugzeug abzuschießen. Verschiedene Bataillone traten gegeneinander an, zuerst ohne Regeln, nach und nach mit ausgefeilteren Techniken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden offizielle Regeln und Handschuhe eingeführt und die Kämpfe in Runden unterteilt. Abgesehen von den Fäusten können die Kämpfer den Gegner mit Ellbogen, Knien und |51| Füßen schlagen. Die Kämpfe sind so gewalttätig, das Aufeinanderprallen der Gegner so brutal, dass beim Muay Thai im Gegensatz zu den zwölf Runden im westlichen Boxen nur fünf Runden erlaubt sind. Masa sagt, dass die Thailänder, die für ihre sanfte Freundlichkeit bekannt sind, an zwei Orten wie ausgewechselt sind: im Auto und im Ring. »Wir kämpfen gut und fahren mörderisch.«
Die Kämpfer von Sangmorakot, der Schule für Thaiboxen, sind die Söhne armer Bauern, die aus den Provinzen in die Hauptstadt geschickt wurden, um hier ihr Glück zu versuchen. Sie suchen das, was »der Boss« eine Chance nennt. Thitiphong glaubt, dass alle Menschen mindestens eine davon brauchen. Wer sie bei ihm vertut, soll Platz für einen anderen machen und bloß nicht kommen und eine zweite verlangen. Der Boss nimmt alle Jungen auf, die an seine Tür klopfen und um diese Chance bitten. Er gibt ihnen zu essen, kleidet sie, lässt sie zur Schule gehen und trainiert sie jeden Tag, bis noch der versteckteste Muskel ihres Körpers schmerzt.
»Es sind meine Kinder«, sagt Thitiphong von den Jungs, die an seine Tür pochen. »Sogar mehr noch als meine eigenen Kinder.«
Der Ring ist für die Jungen seines Boxstalls alles. Tagsüber trainieren sie, essen und ruhen sich auf seinen Brettern aus, bei Einbruch der Nacht schlafen sie erschöpft und fast immer lädiert unter ihnen ein. Der Hohlraum unter dem wackeligen Viereck und sein Boden sind in winzige Koben unterteilt, wo die Boxer, von denen einige erst acht sind, sich zwischen leeren Dosen und schmutziger Wäsche zusammendrängen. Wer unten keinen Platz findet, schläft im Ring, mit einem Netz zum Schutz gegen die Mücken. Die Menschen in den Tropen nehmen Mücken nicht auf die leichte Schulter. Dieses winzige, unsympathische Insekt hat schon ganze Völker in die Knie gezwungen, Heere vernichtet und die Entwicklung ganzer Nationen aufgehalten. Mücken töten mehr Menschen als Hunger, Kriege und Verkehrsunfälle zusammengenommen. Sogar in modernen Städten wie Bangkok übertragen sie nach wie vor das Denguefieber. Ein Boxer mit Denguefieber kann wochenlang nicht
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