Kinder des Monsuns
Gelegenheiten: Er hat einen Teil seiner Kraft, gegen den Strom zu schwimmen, eingebüßt. Sein Humor ist voller Schärfe und Bitterkeit. Er fährt mich zur Brücke der Freundschaft, ein Geschenk der Japaner, hält einen Moment an und sagt: »Siehst du das Polizeiboot da? Es ankert hier 24 Stunden, um die verzweifelten Mädchen herauszufischen, die es satt haben, sich in den Bordellen zu verkaufen, oder Taxifahrer wie mich, die bis zum Monatsende nicht über die Runden kommen. Die Leute beschließen, in den Fluss zu springen, aber das wirft ein schlechtes Licht auf die Regierung, daher jagt das Boot los und holt dich raus, bevor du ertrinkst. Sie holen dich ins Leben zurück. Nicht mal unser eigenes Leben gehört uns noch.«
Abends fahren wir in den Foreign Correspondents Club in |38| Phnom Penh, ein Gebäude im Kolonialstil, in dem man noch dem Fotografen Al Rockoff begegnen kann, den John Malkovich in
The
Killing Fields
verkörperte – der beste Film über den kambodschanischen Völkermord. Durch die großen Fenster sieht man Lichter auf dem Fluss, Fischerboote, die das Ende der Regenzeit ausnutzen, um mit der nun wieder zum Chinesischen Meer fließenden Strömung flussabwärts zu fahren. Wir sprechen von alten Abenteuern und erinnern uns an Storys, bei denen mir Veasna geholfen hat, zum Beispiel damals im Russenhospital. Ich zeige ihm die Fotos von Vothy, die ich dabeihabe.
»Ja, ich erinnere mich«, sagt Veasna. »Es war ein besonderes Mädchen. An jenem Tag habe ich mich nicht in das Krankenhaus getraut, ich hatte große Angst, ich wusste nicht, ob sich AIDS über die Luft überträgt. Heute weiß ja jedes Kind, dass man ein Kondom verwenden muss. Die Kambodschaner nehmen gleich zwei, weil die hiesigen sehr schlecht sind und platzen.«
»Was mag aus ihr geworden sein?«
»Ich war da nie wieder. Wahrscheinlich ist sie gestorben. Dieses Land ist beschissen, weißt du das? Neulich bekam mein Sohn Denguefieber. Beinahe wäre er gestorben, weil ihm kein Krankenhaus Medikamente geben wollte, wenn ich sie nicht im Voraus bezahlte. Ich musste mir das einzige Jackett anziehen, das ich habe, und mich für einen Reichen ausgeben, um in die Notaufnahme vorgelassen zu werden. Und das in einem öffentlichen Krankenhaus. Entweder gehst du zu dem Schweizer Arzt, oder dein Sohn stirbt, ohne dass es irgendjemand kratzt.«
»Morgen fahren wir sie besuchen.«
»Wen?«
»Das Mädchen mit dem rosafarbenen Kleid.«
Ich bin so viele Male in solcher Eile an so viele Orte gereist, dass es mir manchmal so vorkommt, als hätte ich sie besucht, ohne dort gewesen zu sein. Die ersten Jahre als Asienkorrespondent vergingen schnell, ständig trieb mich die Unruhe, ein weiteres Land kennen zu lernen, über einen weiteren Konflikt zu berichten, eine |39| weitere Reportage zu schreiben, einen weiteren Stempel in meinen Pass zu bekommen. Die Woche mochte in Japan beginnen und in Pakistan enden, am Montag schrieb ich vielleicht über fünfjährige Kinder, die in Bangladesch Steine klopfen, am Freitag einen Bericht über den jüngsten Anstieg der Hongkonger Börse.
Mit den Jahren war mir dieser rasende Journalismus – an einen Ort zu fahren, sich die Geschichte der Leute dort zu borgen und sich ohne weiteres wieder aus dem Staub zu machen – nicht mehr genug. Ich fing an, in alten Notizblöcken zu blättern, las alte Storys wieder und entdeckte, wie schön es ist, zurückzukehren, zu bleiben, mich jedem Ort mit Ruhe zuzuwenden, ohne an einen anderen zu denken, zu erfahren, was aus den Menschen geworden ist, über die ich vor langer Zeit berichtet habe, und zu versuchen, das Ende ihrer Geschichte zu erzählen. Was war aus Vothy geworden? Wenn sie mir wirklich wichtig war, und Dutzende Male hatte ich an sie gedacht, während ich an anderen Orten weilte, so hatte ich nichts unternommen, um es unter Beweis zu stellen. Die Jahre gingen ins Land, ich kehrte nach Kambodscha zurück, ohne das Russenhospital zu besuchen. Beim nächsten Besuch, sagte ich mir, im nächsten Jahr, morgen, morgen, morgen…
Veasna holt mich pünktlich am Hotel ab, und wir fahren zum Russenhospital. Es regnet, als wir dort eintreffen. Einige todkranke Patienten warten am Eingang. Ein Toter wird hinausgebracht, ein noch Lebender eingelassen. Im zweiten Stock stoßen wir im Flur auf eine Schwester. Sie erinnert sich nicht an das Mädchen auf dem Foto, arbeitet erst seit einigen Monaten hier. Wir durchqueren den Korridor, bis wir am anderen Ende ankommen, und gehen die
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