Kinder des Monsuns
Vothy hängt. Mir ist es in der kurzen Zeit, in der ich das Mädchen mit dem rosafarbenen Kleid kennen gelernt habe, nicht anders ergangen, und das gilt auch für alle anderen im Krankenhaus, angefangen bei den Putzfrauen bis hin zu den sterbenskranken Patienten, die keine Gefühle mehr heucheln oder verschenken müssen. Tun ist entschlossen, bis zuletzt zu kämpfen, um Vothy am Leben zu erhalten. Jede Woche bringt sie sie in das Kinderkrankenhaus Kantha Bopha in Phnom Penh in die Sprechstunde von Dr. Beat (Beatocello) Richner. Der Schweizer Arzt ist der Einzige, der ihr die Vitamine gibt, die ihr Immunsystem stärken und verhindern, dass sie in wenigen Tagen einer Infektion erliegt. Tun und Vothy steigen zweimal in der Woche in eine Rikscha und durchqueren die Stadt bis zum Krankenhaus von Dr. Richner. Vothy genießt die Fahrten, grüßt die Menschen auf der Straße und kauft sich etwas Süßes, bevor es zurück ins Russenhospital geht.
»Dort gibt es auch Leute wie du«, sagt sie mir.
»Leute wie mich?«
»Ja, Ausländer. Ärzte mit großer Nase.«
Vothy will alles über Europa wissen, wie die Häuser und die Prinzen sind, ob es dort Busse mit zwei Stockwerken gibt und ob |25| die Popsänger große Swimmingpools haben. Isst man dort Reis? Sind die Kleider dort alle rosafarben? Und bei jeder Frage lächelt sie, weil es den Kambodschanern, ganz gleich, was sie erlitten haben, noch nie gelang, ein Lächeln zu unterdrücken. Mit einem Lächeln auf den Lippen mordeten zur Zeit des Genozids die Henker Pol Pots. Mit einem Lächeln auf den Lippen ist vor einigen Stunden einer der Patienten des Russenhospitals gestorben. Mit einem Lächeln klammern sich die minderjährigen Mädchen in Svay Pak an die Arme ihrer Freier. Es ist, als bliebe ihnen, nachdem ihre Tränen erschöpft sind, nur dieses Lächeln.
Beim Abschied fragt mich Vothy, wann ich wiederkomme. Ich hatte es nicht vor, doch ich verspreche ihr, nach einer Reise in den Norden des Landes wieder vorbeizuschauen und sie zu besuchen, bevor ich nach Hongkong zurückfliege. Fünf Tage später stehe ich abermals in dem Zimmer im zweiten Stock. Sokgan liegt nach wie vor auf ihrem Bett – lebt sie? ist sie tot? –, aber Vothy ist nicht bei ihr. Sie kommt kurz darauf lachend über den Flur gerannt, verfolgt von anderen Kindern, die ihr zurufen: »Bleib stehen, Glatzköpfchen, wir kriegen dich!« Den Spitznamen hat sie von Tun. Eines Tages, als sie sah, wie sich die Kleine traurig im Spiegel anschaute, beschloss sie, mit ihr in den Frisiersalon zu gehen, um ihr den Kopf scheren zu lassen, damit man nicht mehr die kahlen Stellen sieht, die von ihrer Krankheit herrühren. Vielleicht war dies der Moment, wo Tun und Vothy unzertrennlich wurden.
Ich richte den Fotoapparat auf Vothy, doch als sie ein paar Meter von mir entfernt ist, bremst sie scharf ab und hält sich die Hände vor die Augen. »Einen Moment«, sagt sie. »Besser mit dem rosafarbenen Kleid.«
Sie geht ins Zimmer, wo ihre Mutter liegt, kriecht unter das Bett und holt den alten Musterkoffer hervor, nimmt ihr rosafarbenes Kleidchen mit Schulterpolstern und Rüschen heraus, das Kleid für besondere Anlässe, hebt es in die Höhe, streift es behutsam über und wiegt Schultern und Hüfte, um es zu straffen. Schließlich bindet sie die Schleife am Rücken.
|26| »Fertig!«
Es sollten mehrere Jahre vergehen, bis ich mit dem Foto in der Hand an diesen Ort zurückkehrte, um nach dem Mädchen mit dem rosafarbenen Kleid zu fragen, in der Hoffnung, dass die Medikamente, die bereits Tausende von Kranken im Westen vor dem Tod bewahrt hatten, rechtzeitig auch nach Kambodscha gekommen waren, um Vothy und ihr so oft verratenes Volk zu retten.
*
Häufig ist es Tausende Kilometer entfernt, in den »bedeutenden« Ländern, wo sich das Schicksal der »unwichtigen« Länder entscheidet. Das Leben der »unwichtigen« Menschen ist durch eine Kette von Umständen und Einmischungen sogar schon vor ihrer Geburt vorherbestimmt, ohne dass es noch groß darauf ankäme, was sie später unternehmen, um ihrer prekären Lage zu entkommen. Ihre Zukunft wird von Politikern geschmiedet, die niemals an den Orten waren, über die sie ihre Ratschlüsse fassen, und nie die Situation ihrer Menschen verstehen werden oder sich in ihre Lage versetzen können, Führer, die keinen Augenblick innehalten, um die Konsequenzen ihrer Handlungen für das Leben realer Menschen zu bedenken, die Tausende von Kilometern von ihren Büros entfernt leben.
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