Kinder
dem Blick auf die
Absperrung drunten im Nieselregen am Straßenrand und auf die Polizisten, die
sich Notizen machten und immer wieder die Markierungen auf der Fahrbahn
fotografierten, losreißen konnte, war sein Kaffee längst kalt geworden.
Er ging zur Maschine, leerte die Tasse in den Ausguss neben der
kleinen Anrichte, stellte eine neue Tasse unter die schwarze Plastiktülle,
drückte erneut den Espresso-Knopf und sah zu, wie sich kurz danach die
schaumige Brühe in die Tasse ergoss. Die Crema bedeckte wenig später den
Espresso, und anfangs kräuselte sich etwas Dampf über der Tasse – doch Rektor
Wehling, der stumm und starr auf seine Tasse stierte, war ganz woanders mit
seinen Gedanken, und auch dieser Kaffee wurde ungetrunken kalt.
Die Nachricht der Ärztin vom Tod ihres Sohnes Kevin nahm
sie zunächst wortlos auf, dann erhob sich Christine Werkmann ruckartig, wollte
unbedingt zu Kevin gehen, wandte sich aber wieder um, ehe sie die Glastür
erreichte, sah sich panisch um, als suche sie Halt – und sackte in sich
zusammen, noch bevor die Ärztin oder Rainer Pietsch sie zu fassen bekamen.
Pflegerinnen eilten herbei, die Ärztin griff routiniert ein, und
nach ein paar Minuten kam Christine Werkmann wieder zu sich. Sie sah sich kurz
um, als wisse sie nicht so recht, wo sie sich befinde. Dann traten ihr Tränen
in die Augen, sie riss sich los, rappelte sich auf, holte tief Luft und schrie – schrie, so laut sie konnte, länger und herzzerreißender, als es Annette
Pietsch zu ertragen vermochte. Sie begann hemmungslos zu weinen und ihr Mann
strich ihr immer wieder mit den Händen über die Schultern.
Die Ärztin setzte Christine Werkmann eine Spritze, geschickt und
schnell, und bevor der verzweifelten Mutter noch richtig klar geworden war,
dass sie eine Injektion bekam, brach ihr Schreien auch schon ab. Schluchzend
ließ sie sich widerstandslos zur Notaufnahme hinüberführen, wo sie auf ein
eilends herbeigeschafftes Bett bugsiert wurde.
Eine Zeit lang lag sie dort, apathisch, nur noch ab und zu von einem
Weinkrampf geschüttelt. Schließlich traten Annette und Rainer Pietsch zu ihr
ans Bett, sahen auf die Frau hinunter, berührten sie mit den Fingerspitzen an
der Schulter.
Christine Werkmann, die bis dahin die Augen fest geschlossen hatte,
sah zu den beiden auf und lächelte ihnen matt und melancholisch zu. Dann
schlief sie ein.
Als sie etwa eine Stunde später wieder aufwachte, setzte sie sich
auf, sah Rainer und Annette Pietsch im Wartebereich sitzen und sich
unterhalten.
Sie fühlte Dankbarkeit den beiden gegenüber. Dankbarkeit dafür, dass
sie mit ins Krankenhaus gekommen waren. Dankbarkeit dafür, dass sie noch immer
hier bei ihr in der Nähe saßen und sich um sie sorgten.
Doch mehr noch als Dankbarkeit spürte sie Wut, die in ihr keimte.
Wut und Hass. Ihr Sohn war tot, direkt vor der Schule überfahren. Und nur die
Eltern eines Einzigen von Kevins Klassenkameraden saßen hier bei ihr und
zeigten Anteilnahme an ihrem Leid.
Wenn sich Kevin ebenso gefühlt hatte, ging es ihm nun vermutlich
besser als seiner Mutter.
Nach der letzten Unterrichtsstunde schlurfte Hype wortlos
durch den Schulflur. Vor dem Vertretungsplan drängelten sich einige Schüler und
lasen vom Ausfall des heutigen Nachmittagsunterrichts – sie freuten sich zwar,
aber es herrschte trotzdem noch immer dieselbe gedämpfte Stimmung wie am
Morgen. Dass Kevin Werkmann der Schüler war, der am Morgen überfahren worden
war, hatte sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer.
Für die Unterrichtsstunden von Rosemarie Moeller und Frido Hässler
waren kurzfristig Vertretungen organisiert worden, oder die Schüler hatten
Aufgaben bekommen, die sie selbstständig bearbeiten sollten. In manchen Klassen
wurde ein, zwei Schulstunden lang über den Unfall und die Überlebenschancen des
schwer verletzten Sechstklässlers gesprochen. Doch bald stellte sich wieder die
übliche Unterrichtsroutine ein, wenn die Atmosphäre insgesamt auch bedrückt
blieb.
Kevins bester Freund Lukas und zwei Mädchen, die den Unfall aus
nächster Nähe miterlebt hatten, wurden psychologisch betreut. Die beiden Mädchen
wurden nach einer Stunde von der Mutter des einen abgeholt, Lukas blieb bis zum
Ende der fünften Stunde mit der Psychologin der benachbarten Realschule im
Sanitätsraum – zum Reden hatte er bald keine Lust mehr, und so saß er stumm auf
der Liege und sah starr auf die gegenüberliegende Wand. Zum Fenster traute er
sich nicht hinauszuschauen. Hinter
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