Kinder
der Klasse 6d kondolierte, sprang Christine Werkmann kurz auf und ging
zum Telefon – aber dann schreckte sie doch davor zurück, den Hörer abzunehmen,
und sie trottete in die Küche, um sich nachzuschenken.
Irgendwann schlief sie im Sitzen ein, rappelte sich nach ein, zwei
Stunden vom Küchentisch hoch, streckte die schmerzenden Glieder und schlurfte
ins Schlafzimmer. Nach einer Stunde wälzte sie sich noch immer im Bett hin und
her. Dann stand sie auf, trank Wasser aus dem Hahn und ging zu Kevins Zimmer
hinüber. Eine Weile stand sie unschlüssig vor dem Bett ihres toten Jungen und
weinte, dann kauerte sie sich vor dem Bett auf dem Boden zusammen und schlief
ein.
Am nächsten Tag kam Rainer Pietsch überraschend spät nach
Hause. Er hatte durch den Unfall vor der Schule ganz vergessen, dass für diesen
Vormittag ein Jour fixe angesetzt war – und als es ihm am späten Nachmittag
wieder einfiel, war es zu spät, deswegen noch Bescheid zu geben.
Dass sein Gruppenleiter ihn aus diesem Grund ins Büro bestellte und
ihm mit pathetischen Worten die Leviten las, zeigte zweierlei: wie blank die
Nerven in der Firma angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung lagen – und wie
verzweifelt jeder einzelne Gruppenleiter offenbar nach Mitarbeitern fahndete,
die man im Ernstfall zum Abschuss freigeben konnte.
Das Gespräch verlief unangenehm, und am Ende war klar, dass auf
Rainer Pietschs Personalakte nun ein dickes Minus prangte – obwohl bei dem Jour
fixe an sich nichts Bedeutendes behandelt worden war.
Rainer Pietsch blieb länger im Büro, um sich nicht noch angreifbarer
zu machen, und als er sich abends mit einem Packen Unterlagen auf den Heimweg
machte, sorgte er noch dafür, dass sein Gruppenleiter das auch mitbekam.
Zu Hause herrschte dicke Luft. Michael hatte gerade einen seiner
Ausraster gehabt, mit denen er derzeit seine Eltern regelmäßig bedachte – Rainer
Pietsch hörte noch die stampfenden Schritte die Treppe hinauf und oben dann das
laute Schlagen der Tür.
»Wir sind schuld«, sagte Annette Pietsch und räumte seufzend den
Esstisch ab.
»Aha. Und woran?«
»Egal, wir sind schuld.«
»Na, prima«, schnaubte Rainer Pietsch und klopfte mit der freien
Hand auf den Papierstapel, den er unter dem linken Arm trug. »Nicht nur daran
bin ich schuld. Hab gestern eine Besprechung verpasst, und dafür hat mir Mayer
heute den Kopf gewaschen. Sicherheitshalber hab ich daher ein bisschen Gas
gegeben im Büro, und nachher schau ich auch noch diesen Stapel durch.«
»War die Besprechung wichtig?«
»Quatsch, das übliche Gelaber, und jede Woche wieder von vorn – aber
da ging’s wohl eher ums Prinzip. Und ich hab vergessen abzusagen, weil ich mit
dir und Frau Werkmann im Krankenhaus saß.«
»Na ja, da wächst schnell Gras drüber, du wirst sehen.«
»Ja, ja«, sagte er und ging ins Wohnzimmer.
Hoffentlich, dachte er, war sich aber alles andere als sicher.
Als Michael das erste Mal nach dem Zwischenfall im
Treppenhaus der Schule wieder zum Unterricht kam, sahen ihn Tobias und Marc
schon von Weitem und gingen grinsend auf ihren Klassenkameraden zu.
Ronnie und Petar schlenderten gerade über den Schulhof auf die
Eingangstür zu und blieben stehen, als sie sahen, dass die drei anderen gleich
aufeinandertreffen würden. Ronnie machte Anstalten, Michael zu Hilfe zu eilen,
aber Petar hielt ihn auf: Die anderen waren zu weit weg, um rechtzeitig
eingreifen zu können – und Tobias und Marc würden sich kaum trauen, Michael vor
den Augen der anderen Schüler, die jetzt in Scharen zum Gebäude strömten, etwas
zu tun.
Etwa drei Meter vor Michael blieben Tobias und Marc stehen und
grinsten ihn breit an. Michael ging einfach weiter, kniff die Augen zusammen
und sah die beiden böse an. Als er sie erreicht hatte, marschierte er einfach
zwischen ihnen hindurch und rempelte dabei beide so heftig an, dass Tobias
rückwärts stolperte und beinahe hingefallen wäre. Michael stapfte weiter und
ging zusammen mit Petar und Ronnie die Treppe zum Eingang hinauf. Tobias und
Marc sahen ihm verblüfft hinterher, Marc rieb sich die Schulter.
»Coole Aktion«, lachte Petar und klopfte seinem Freund auf die
Schulter. »So kenn ich dich gar nicht.«
»Stimmt, so kennst du mich nicht«, brummte Michael und stapfte
einfach weiter.
Ronnie zog eine Augenbraue hoch und sah den Freund fragend an.
Sarah war mit den Hausaufgaben schneller fertig, als sie
gedacht hatte. Es waren viele Aufgaben gewesen, durchaus auch schwere, aber
seit
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