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Kinder

Kinder

Titel: Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seibold
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sie ihn in den Arm. Erst sträubte sich
der Junge ein wenig, dann ließ er sich gegen seine Mutter sinken. Sein schmaler
Körper bebte, von Zeit zu Zeit war leises Schluchzen zu hören, und allmählich
fühlte Annette Pietsch, wie die Seite, an der sein Gesicht lehnte, feucht
wurde.
    Sarah schenkte für sich und Lukas Apfelschorle nach, Rainer Pietsch
ließ die Espressomaschine laufen – zuckte aber zusammen, als die Maschine laut
wie immer ihren Dienst verrichtete.
    »Geht’s, Lukas?«, fragte Annette Pietsch nach einer Weile.
    »Hm«, machte der Junge und setzte sich wieder aufrecht hin.
    Sarah schob sein Glas ein Stück näher zu ihm und nickte ihm
ermunternd zu. Lukas trank einen kleinen Schluck, schniefte und wischte sich
die Nase am Ärmel trocken.
    Rainer Pietsch setzte sich neben Sarah, trank den Espresso und
musterte seinen Sohn.
    »Und?«, fragte er dann. »Kannst du uns erzählen, wie das passiert
ist?«
    Lukas schreckte auf und sah seinen Vater an.
    »Ich meine: das mit Kevin, den Unfall.«
    Lukas schluckte, räusperte sich, öffnete den Mund – und schloss ihn
dann wieder, ohne etwas zu sagen.
    »Schlimm, oder?«
    Lukas nickte, seine Augen füllten sich erneut mit Tränen.
    »Wir lassen dich mal lieber in Ruhe, Lukas, okay?«
    Lukas nickte und sah seinen Vater lange an. Dann wischte er sich die
Tränen ab, die ihm die Wangen hinunterliefen.
    Rainer Pietsch sah seine Frau an, die ebenfalls mit den Tränen
kämpfte. Dann musterte er wieder Lukas, der mittlerweile den Kopf gesenkt
hatte.
    Was außer Traurigkeit und Schock hatte er vor wenigen Sekunden noch
in der Miene seines Sohnes sehen können? Das Gefühl, etwas erkannt zu haben,
das er nicht in Worte fassen konnte und das ihm wie Sand zwischen den Fingern
zerrann, bohrte in ihm.
    Christine Werkmann hatte jedes Klingeln gehört, aber das
Telefon den ganzen Nachmittag und Abend hindurch kein einziges Mal abgehoben.
    Rektor Wehling hinterließ ihr als Erster eine Nachricht auf dem
Anrufbeantworter: Im Namen der Schule bot er an, sich für sie um die traurigen
Pflichten rund um die Bestattung ihres Sohnes zu kümmern – und natürlich sei es
auch kein Problem, für sie nötigenfalls Kostenerstattung oder Beihilfen zu
organisieren. Sie solle sich doch deswegen bitte am nächsten Tag kurz in der
Schule melden, gerne auch telefonisch, wenn sie es anders nicht einrichten
könne. Wehling klang etwas unbeholfen, der Anruf schien ihm nicht leicht zu
fallen – und es wirkte sehr unpersönlich, dass er die Informationen auf dem
Anrufbeantworter hinterließ.
    Vertrauenslehrer Hässler fragte, ob er irgendwie helfen könne, und
so, wie er gegen Ende seiner Nachricht kurz wartete, bevor er auflegte, wirkte
es fast, als wisse er, dass Kevins Mutter ihm in diesem Moment zuhörte. Der
Schulpsychologe gab seine Handynummer durch und bot ein Beratungsgespräch an,
gerne auch abends und kurzfristig.
    Annette Pietsch fragte, ob sie noch irgendwie helfen könne. Stockend
sprach sie auf den Anrufbeantworter, und als sie schließlich Grüße von Lukas
ausrichtete, brach ihre Stimme ab und sie schien ein Schluchzen zu unterdrücken.
Dann legte sie auf.
    Irgendein evangelischer Pfarrer, dessen Name ihr nichts sagte,
hinterließ eine Nachricht. Das Krankenhaus fragte an, ob man den Kontakt zu
einem Bestatter vermitteln solle, und nannte den Firmennamen und die
Telefonnummer des örtlichen Bestatters, den man als sehr seriös und einfühlsam
empfahl.
    Gegen fünf rief Rosemarie Moeller an und sprach ihr auch im Namen
ihres Mannes ihr »herzliches Beileid« aus, wie sie sagte – aber die Nachricht
klang mit der wie immer eher scharf klingenden Stimme der Lehrerin alles andere
als herzlich. Christine Werkmann begann hemmungslos zu weinen und brauchte fast
eine halbe Stunde, bis sie sich nach Rosemarie Moellers Anruf wieder
einigermaßen im Griff hatte.
    In dieser Zeit waren vier Anrufe eingegangen, ohne dass jemand auf
Band gesprochen hätte. Sie quälte sich aus dem Sofa, ließ sich im Menü die
verpassten Anrufe anzeigen: Es war einmal die Nummer von Familie Pietsch und –
dreimal! – die Telefonnummer des Bestatters, den das Krankenhaus vorhin
empfohlen hatte.
    Von einem neuen Weinkrampf geschüttelt kehrte Christine Werkmann ins
Wohnzimmer zurück. Nach einer Weile schaltete sie den Fernseher ein und zappte
sich wahllos durch die Programme, bis sie an irgendeiner Vorabendserie
hängenblieb.
    Als Karin Knaup-Clement kurz vor acht auf Band sprach und im Namen
    der Eltern

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