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Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken

Titel: Kinderland. Dritter Teil: Sommerwolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Lorenz
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weit weg.«
    Arik setzte sich zu Christoph.
    »Das Gleichgewicht ist noch nicht vorhanden. Alles ist schief, nichts gerade. Wir tun unser Bestes, ich weiß. Aber es reicht noch nicht. Ich hab ihre Geschichten aufgeschrieben, du kannst sie später sehen. Nur wenn du willst, natürlich. Und das war gut, es war richtig. Eine Zeit lang habe ich sogar geglaubt, es würde reichen. Aber Worte sind beliebig, wenn auch nicht unwichtig. Manchmal müssen Taten größer sein als Worte. Verstehst du?«
    Arik riss ein Löwenzahnblatt ab, zupfte daran. Er schüttelte den Kopf.
    Christoph lächelte. »Da ist schon in Ordnung. Wichtig ist, dass du gekommen bist. Wir haben Zeit.«
    Ein kühler Sommerwind strich durch die Bäume.
    Ariks Worte sollte Christoph nie mehr vergessen. Erschütternd und berührend zugleich: »Wir müssen ihre Herzen forttragen. Und tapfer müssen wir sein.«
    Tapfer trage fort mein Herz
.
    Christoph hielt den Atem an. Und die Welt wurde eine andere.

Frank und Balthasar
Sommer 1999
     
    Die Tabletten aus dem Krankenhaus lagen auf dem schmalen Tisch neben dem Aschenbecher. Wenn er eine davon nahm, musste er nachts einige Male aufstehen und Wasser lassen. Es war zum Verrücktwerden, aber wenigstens passten seine Füße wieder in seine Schuhe. Franks Toilette war ein schmaler Raum mit einem winzigen Fenster. Er liebte den Ausblick: der Himmel bekam eine andere Farbe, die Wolken waren größer, rückten näher. Von hier aus konnte Frank auch den Grabhügel sehen und das Murr-Haus, die hohen Bäume und die umgeknickten Zaunlatten, wie das Gebiss eines alten Mannes so schief. Er stand da, längst schon fertig, und wusste plötzlich, was zu tun war. Dabei war er eben noch viel zu müde gewesen, um auch nur einem Gedanken zu folgen. Beim Blick auf seine Armbanduhr stellte er fest, dass es fast zwei Uhr morgens war. Das Murr-Haus wurde vom vollen Mond erhellt, der sich in den nachtschwarzen Fensterscheiben spiegelte. Es schien, als würden totenbleiche Gesichter aus den Fenstern sehen, hinein in sein Herz.
    Vor Jahren hatte Frank ein Puzzlespiel auf der Müllhalde gefunden. Soweit er sich erinnerte, zeigte das Bild einen Meeresstrand mit Palmen und Hängematten, am Horizont, über dem tiefblauen Wasser, ein Schwarm Vögel. Die Vögel hatten ihm am besten gefallen. Auf einem der Puzzlestücke waren die Schwanzfedern des größten Vogels abgebildet, vermutlich eine Möwe. Aber so sehr Frank danach suchte, er fand das passende Gegenstück nicht, und nach einigen Tagen war er sogar sicher, dass es nicht in der Packung war. Zwei, drei Wochen lang ließ er das unfertige Puzzle auf dem Tisch liegen und beachtete es nicht weiter. Doch eines Abends, als er von einem Buch aufblickte und darüber nachdachte, noch ein Bier zu trinken, sah er es plötzlich. Vermutlich ein dutzend Mal berührt, umgedreht, zur Seite gelegt.
    Genauso fühlte sich Frank, als er in dieser Vollmondnacht aus dem Fenster blickte; auf einmal erschien alles klar. Alle Müdigkeit, jeglicher Wunsch wieder ins Bett zu gehen, waren verschwunden. Frank sah abermals durch das schmale Glasfenster. Und ein Lächeln erhellte sein Gesicht.
     
    Die Schatten an den nur teilweise tapezierten Wänden waren bleich. Frank setzte sich an den Tisch und horchte. Das leise Zirpen der Grillen, das stetige Brummen der Kühlanlage der Leichenhalle. In den Sommermonaten lief sie ständig, auch dann, wenn niemand dort unten ruhte, zwischen den Kerzenständern, den Weihwasserkessel und den Kranzaufhängungen. Der einzige Raum in der Stadt mit Klimaanlage, die allerdings immer ein wenig zu kühl eingestellt war, damit die Fliegen nicht kamen. Mit Leichtigkeit konnte man sich einen Sommerschnupfen einfangen, die meisten Leute blieben jedoch nicht lange genug in der Halle. Nur Frank machte dieser Ort nichts aus. Im Gegenteil, er fand dort die Ruhe, die er brauchte. Zusammen mit den Toten. Nicht einmal als Kind hatte Frank Angst vor ihnen gehabt. Er mochte die Geräusche, die Klänge seiner Nächte.
    Gedankenfetzen in Franks Kopf. Verscharrte Erinnerungen, die sich an die Oberfläche kratzten.
    Sein Leben lang hatte Frank nicht wirklich gewusst, wer er war, was sein Leben zu bedeuten hatte. Er versuchte, sich an seine Kindheit zu erinnern, an die Momente im Bett, kurz vor dem Einschlafen, wenn die Träume so nahe sind, dass man sie berühren, dass man sie einatmen kann. Das Bett an der Wand, in der beide Jungen schliefen. Das zugige Fenster über ihnen. »Und jetzt: Balthasar Stettler

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