Werwelt 03 - Der Nachkomme
1
Mai 1938
M ein drittes Jahr der Bewußtheit in dieser Welt n ä hert sich seinem Ende. Ich fühle mich alt und g e langweilt. Wi e der kommt der Frühling mit seinen leuchtenden Tagen und ka l ten Nächten, in denen ich zu den Schafpferchen am Rio Grande wandere und mit dem G e danken spiele, mir ein leichtes Nachtmahl zu verschaffen. Häufig aber rühre ich sie gar nicht an, weil ich es vorziehe, während dieser näc h tlichen Stunden über die Mesa nach Osten zu galoppieren oder flußaufwärts zu stre i fen bis zu den Grenzen des Reservats. Während des Tages sorgt Ba r ry für seine Familie, unsere Familie jetzt, und müht sich redlich mit seiner A r beit ab. Renee und Mina kennen mich, und selbst das Ne u geborene blickt mich aus leeren blauen Augen an, wenn ich nachts ins Schlafzimmer schlüpfe. Auch der Kleine hat keine Angst vor mir. Doch ich bin rastlos. Barry denkt unablässig daran, sich aus mir herau s zulösen. Ich fühle mich jetzt so, als wäre ich eine Zweiheit, zwei Wesen z u gleich und nicht eines.
Die Mainacht ist kühl. Ein abnehmender Mond hängt am Himmel wie ein gespannter Bogen, der zum Gebirge blickt. Unterhalb der Felswände, an denen ich entlangwandere, glitzert der Fluß, und aus den Wirbeln seiner braunen Str ö mung steigt die vertraute Musik des Wassers auf. Vor mir, auf der Westseite des Flusses, erspüre ich einen Koy o ten, der mit gesenktem Kopf dasteht und trinkt. Ohne Überl e gung, einzig und allein aus Langeweile, beschließe ich, mich an ihn heranzupirschen. In einer Lawine aus Sand rutsche ich die steile Böschung hinunter und gleite ins braune Wa s ser. Es trägt mich freundlich, während ich gemächlich vo r anpaddle, und ein Stück stromabwärts gehe ich wieder ans Ufer. Der wilde Hund ist jetzt außer Reichweite meines Raumsinns, deshalb mache ich mich daran, auf dem sand i gen Schwemmland kühn stromaufwärts zu trotten.
Ich bin von einer wachen Aufmerksamkeit, und mein Raumsinn bringt mir Nachricht von allen Seiten. Er beric h tet mir von einer Vogelfamilie am anderen Ufer, von Enten im Schilf, von Schlangen, Maulwürfen, Kaninchen ve r schiedener Arten, und dort vorn, eben die lehmige B ö schung erklimmend, ist mein Koyote, den hängenden Schwanz voller Kletten. Er wittert mich nicht, da der Wind in dieser Nacht stromabwärts weht. Ich warte, bis seine Gestalt über dem Rand der Böschung verschwindet, dann springe ich und schieße in geradem Lauf den Hang hinauf, um mich oben flach auf den Boden zu drücken. Niedrige Büsche und Feigenkakteen wachsen verstreut auf dem T a felland, über hunderte von Metern gibt es keine Deckung, keinen Fels. Mein Raumsinn erfaßt den Koyoten, wie er mit gesenkter Nase dahintrottet, in einem Winkel, der ihn auf fünfzig Meter zu der Stelle heranführen wird, wo ich hinter einem Ballen Steppenhexe vom letzten Jahr kauere. Jetzt kann ich schon das feine Knirschen seiner Fußballen im Sand hören, das röchelnde Schnüffeln, während er Wi t terung aufnimmt.
Gerade will ich mich auf ihn stürzen, da warnt ihn e t was. Er scheut plötzlich zurück, hält an und späht in meine Richtung. Steifbeinig steht er da, den Kopf vorgestreckt. Ich beschließe, ihn direkt anzugreifen. Vielleicht fällt der dumme Bursche dann einfach vor Schreck tot um. Als ich mit einem Sprung hinter dem Berg dürrer Steppenhexe hervorbreche, stößt der Koyote einen schrillen Schrecken s schrei aus, und seine Pfoten trommeln wie wild in den Sand, als er davonprescht. Auf zum fröhlichen Jagen! Er schlägt einen hübschen Vorsprung heraus, während ich noch Meter entfernt bin, und seine langen Beine greifen mit solcher Schnelligkeit aus, daß nur noch verwischte Bewegung zu sehen ist. Flinker als ein Kaninchen flitzt er zur Flußböschung zurück. Ich sehe, wie er flugs die B ö schung hinunter verschwindet, so voller Angst, daß er es sogar riskiert, sich die Beine zu brechen, während ich ihm keuchend in großen Sprüngen nachsetze. Unterhalb der Stelle, wo er gesprungen ist, befindet sich trockenes Schwemmland, voll von welkender Steppenhexe. Da h i nein ist der Koyote gestürzt und hat sich nun beinahe durch das Wirrwarr hindurchgekämpft. Unfähig, meinen Schwung zu bremsen, finde ich mich selbst in dem gle i chen klebrigen Geschlinge wieder und muß mächtig um mich schlagen, um wieder herauszukommen. Draußen er s püre ich ihn wieder, als er jetzt über den Sand dem Wasser zurast. Er glaubt, er könnte mich im Fluß abschütteln. T y pisch, genau wie
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